Im Zeichen der Angst Roman
sicher, dass sie diesen Ort besucht hatte.
Ich nahm Hazel die Lampe aus der Hand und ging die 50 Meter bis zum Turm. Der Wind, der ringsum durch die offenen Felder fegte, kroch kalt unter meinen Mantelsaum. Ich ging schneller und knickte ein paarmal um, denn unter der dicken Gräsermatte war der Weg uneben und voller Löcher.
Der Lichtstrahl erfasste eine verrostete Kette mit einem Vorhängeschloss. Sie sicherte eine schwere, grün gestrichene Eichentür, wie man sie sonst nur noch in alten Burgen und Schlössern findet. Der Bügel des Schlosses war aufgebrochen. Ich fühlte mich so unruhig, traurig und zugleich so leer wie 13 Jahre früher, als ich zum ersten Mal hier war. Damals war das Schloss achtlos eingeklinkt gewesen, als hätte es jemand eilig gehabt, den Turm zu verlassen.
Ich sah mich nach den beiden Männern um.
»Scheiße«, knurrte Hazel gerade und hielt sich einen Knöchel.
Ich nahm das Schloss und die Kette ab und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Ihr Metall prallte auf das Metall eines eisernen Fußabtreters und verursachte einen klagenden Ton, der sich im Rauschen des Windes verlor.
Als ich die Tür öffnete, knirschte sie in den Angeln.
»Hier hatten sie meine Tochter eingesperrt«, sagte ich zu David.
»Das weiß ich«, sagte er. »Aber wozu soll das jetzt gut sein?«
Ich zuckte mit den Achseln und ging in den Turm, obwohl mich auch noch nach all den Jahren bei dem Gedanken grauste, wie Johanna sich gefühlt hatte, als sie das dumpfe, schwermütige Knarren der eingerosteten Scharniere vernommen hatte.
Das Licht der Lampe fiel auf eine verstaubte Stiege mit wurmstichigem Geländer, die in den ersten Stock führte. An jenem Nachmittag vor 13 Jahren war das spärliche Tageslicht durch drei schmale Fenster auf Spinnennetze an den Decken, in den Ecken und an den Fenstern gefallen, die in dem Licht wie futuristische Objekte geglänzt hatten. Johanna hatte eine panische Angst vor Spinnen.
Ich starrte auf die Tür, die Hazel hinter uns angelehnt hatte und gegen die der Wind drückte, als wollte er uns folgen. Ich blickte auf die Stiege, die Johanna auf ihrem letzten Weg nach oben gegangen war. Ich konnte mich nicht rühren. Hinter mir hörte ich Hazel mit David leise tuscheln, ob es nicht besser wäre, bei Tage wiederzukommen. Die Argumente flogen hin und her, und ich folgte ihnen nicht mehr.
Ich betrat die Welt meiner Tochter. Ich stellte sie mir vor in dem blauen Parka, den schweren Ranzen auf dem schmalen Rücken und auf dem Kopf die rote Wollmütze. Ein zierliches Mädchen, hinter dem sich die riesige Tür schloss und die eiserne Klinke schwerfällig einrastete. Wenn sie den Kopf wandte, sah sie neben sich und über sich an dem rauen Mauerwerk die Spinnennetze, vor sich eine schmutzstarrende Stiege, während die Einsamkeit sie mit einer dumpfen Luft empfing, die von Jahrzehnte altem Staub geschwängert war. Es war Januar. Tagelang hatte es geschneit, Frost und Kälte waren auch durch das Mauerwerk des Turmes gedrungen.
Vor mir gaukelte das schmale Gesicht meiner Tochter mit den grauen Augen, deren Pupillen sich weiteten, wenn die Angst sie überrollte. Angst vor einem Asthmaanfall, Angst vor Spinnen, Angst vor der Einsamkeit, Angst vor Dunkelheit und Kälte.
Davids Hand legte sich auf meine Schulter. »Was ist?«
»Vielleicht war es doch falsch, noch einmal hierherzukommen«, sagte ich leise.
Er nahm mir die Lampe aus der Hand.
»Du wartest hier«, sagte er und stieg gemeinsam mit Hazel die Stufen empor.
Ich hörte sie beide reden. Ich wagte nicht, irgendetwas zu berühren. Ich stand vor den Stufen, lauschte den sich entfernenden Schritten und dem wütenden Zischen des Windes, der den Turm umkreiste.
Der Wasserturm bestand aus vier Ebenen. In der letzten
befand sich der Wasserbehälter, der etwa 30 000 Liter fasste und durch den hindurch eine Wendeltreppe ins Dachgeschoss führte. Ich erinnerte mich, wie ich damals dort hinaufgegangen war. Ich hatte vor einer Bodentür aus schwerem Holz gestanden, einmal tief durchgeatmet und dann den Dachboden betreten.
Drei winzige Gaubenfenster hatten mir fahles Licht gespendet, während eine Lampenfassung ohne Glühbirne staubüberzogen von der Decke baumelte. In einem vierten Fenster fehlten die Scheiben, jemand hatte es mit Brettern vernagelt. Der Dreck verschlug mir den Atem.
Johannas rote Mütze und der orangefarbene Ranzen leuchteten mir, achtlos hingeworfen, aus einer Ecke neben einem Berg von Vogelkot entgegen. Ich blickte
Weitere Kostenlose Bücher