Im Zeichen der Angst Roman
Renner, ich selbst wäre an der Entführung meiner Tochter beteiligt gewesen. Doch zumindest in dem Punkt folgte die Anklage meiner Verteidigung. Denn weshalb hätte ich Bruchsahl töten sollen, wenn ich selbst in die Entführung verwickelt war? Als sie die Fasern auf der Matratze Bruchsahls Jacke zuordneten, war für sie bewiesen, dass der Mann meine Tochter entführt hatte.
Doch so einfach war das nicht. Man hatte Bruchsahl geholt, als meine Tochter am Ersticken war. Als er kam, war es zu spät. Sie reagierte nicht mehr auf das Spray und starb - und er hatte, wie es jeder Arzt tat, versucht, sie wiederzubeleben. Das erklärte die Fasern. Doch in den Augen von Max Renner und später in denen des Staatsanwalts untermauerten sie in meinem Prozess seine Schuld an der Entführung und meine an seinem Tod.
Ich hatte Renner erzählt, dass die Entführer laut Bruchsahl nur mit Schutzanzügen und Schutzschuhen in dem Turm unterwegs gewesen waren.
»Schreiben Sie Krimis«, hatte Renner genervt geantwortet. »Da können Sie die nächsten Jahre in Haft Ihre Fantasie austoben.«
Genau das hatte ich getan.
Ich hörte die Männer zurückkommen. Unter Hazels Gewicht knarrten die Stiegenbretter dunkler und schwerer als unter Davids.
»Das musst du dir ansehen«, sagte David.
»Nein«, sagte ich. »Es war doch keine so gute Idee, hierherzukommen.«
»Komm mit. Das ist unglaublich.« Er zog mich am Arm. Hazel hielt den Schein der Lampe auf uns gerichtet wie ein Spotlight in einer TV-Show.
»Ich will nicht«, wiederholte ich und entzog ihm meinen Arm.
»Komm mit«, sagte er. »Es ist wichtig.«
Widerstrebend gab ich nach. Im schwankenden Schein des Lichtkegels gingen wir zu dritt die Stiege bis zur Wasserblase hinauf und folgten dann der steilen, schmalen Metalltreppe in den Dachboden. Je höher wir kamen, desto zorniger wütete der Wind um den Turm und riss an Ziegeln und Dachsparren, die unter der Wucht der Wut knurrten und stöhnten. Von oben schimmerte auf der Treppe ein schmaler Lichtstreifen, der durch einen Spalt in der Dachbodentür fiel.
Ich hielt die Luft an, als David sich an mir vorbeidrückte und die Tür öffnete. Helles Licht flutete mir entgegen.
Was ich sah, jagte mir kalte Schauer über den Rücken, und ich presste die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien.
An der Wand hing ein Porträtfoto meiner Tochter Johanna in einem schwarzen Rahmen und mit einer schwarzen Schleife an einer Ecke. Auf dem Boden lag die Matratze von damals, beschmutzt mit Vogeldreck und Mäusekot. Daneben stand Johannas Ranzen, dessen leuchtendes Orange verblichen war. Ihre Mütze lag inmitten von halb heruntergebrannten Teelichtern auf einem Tischchen. Eine dunkelblaue Decke mit goldenen Seidenstickereien hing bis zum Fußboden. Ein Mathebuch und ein Schreibheft lagen aufgeschlagen auf dem Tisch neben Johannas Federmappe, als hätte jemand darin gelesen. Ein Rosenstiel steckte in der Falznaht wie ein Lesezeichen, die vertrockneten, dunkelroten Blätter waren wie hingestreut. Über allem lag eine dicke Staubschicht.
Ich presste die Hand immer noch auf den Mund. Tränen schossen mir in die Augen. Ich taumelte auf den knarrenden Bodenbrettern bis zum Tisch, riss die Mappe hoch und drückte sie an mich.
»Ein Altar, meine Güte. Jemand hat einen Altar errichtet.«
16
»Trinken Sie«, sagte Hazel, als wir wieder in dem BMW saßen, der nach Big Mac und Bratenfett roch, und reichte mir eine versilberte Taschenflasche.
»Lass mal bitte die Scheibe runter«, sagte David. »Das ist ja nicht zum Aushalten.«
Leise surrend glitt die Scheibe nach unten, und ein kalter Luftstrom zog über mein Gesicht, während ich die Flasche ansetzte, ohne die winzige Kappe zu benutzen. Der Cognac umschmeichelte
weich die Zunge, floss langsam die Kehle hinab, durchwärmte mich und beruhigte meine Nerven. Ich dachte an John Hart und an meine vielen Universen. Wer auch immer diesen Altar errichtet hatte, er hatte ihn schon lange nicht mehr besucht. Ich trank in einem gierigen Zug.
Ich dachte an Josephine und hoffte, dass sie fest und friedlich bei David zu Hause schlief.
Ich schob den Turm aus meinem Bewusstsein in die tiefsten Kammern meines Gedächtnisses.
»Das reicht«, sagte David und entwand mir die Taschenflasche. »Alkohol half noch keinem.«
»Mir schon.« Meine Stimme klang widerborstig, auch wenn ich wusste, dass er Recht hatte. Ich brauchte einen klaren Verstand.
»Wer macht denn so was?«, fragte Hazel in das leise Summen des
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