Im Zeichen der Angst Roman
fassungslos durch den Raum und fragte mich, welche mitleidlosen Geschöpfe mein Kind zwischen all dem Vogeldreck und Mäusekot eingesperrt hatten. Entsetzt schaute ich auf eine zerschlissene Matratze, aus deren aufgeplatzten Nähten Pferdehaar quoll.
Ich ließ mich auf sie fallen und zog die beige Kamelhaardecke, die vor der Matratze lag und von dunklen Stockflecken übersät war, an mich. Ich roch an ihr, und ich erinnerte mich nun, an diesem Abend am Fuß der Stiege, noch genau an den Übelkeit erregenden Geruch, wie ich mich an alles erinnere, was mit Johannas Tod zu tun hat. Die Decke roch nach muffiger Schärfe, wie sie Schimmelpilze verursachen, und so, als hätte sie jahrelang in einem feuchten Keller gelegen. Selbst wenn all der Stress bei Johanna nicht zu einem Asthmaanfall geführt hatte, diese verseuchte Wolldecke hatte es getan. Diese Decke in der Abgeschiedenheit dieses Turmes - das war ihr Todesurteil gewesen.
Neben der Matratze stand ein Emailleeimer mit Deckel für ihre Notdurft. Auf dem Boden lag eine halb aufgebrauchte Rolle Toilettenpapier im grauen Staubschleier der Dielen.
Ich saß dort in dem Wissen, dass Johannas letzte Tage ein
qualvoller Strom sich unendlich hinziehender Minuten gewesen war. Sie wusste um ihre Allergien und wie empfindlich sie auf Staub und Schmutz reagierte. Trotz ihrer sieben Jahre kannte sie Schimmelpilze genau. Ich hatte sie vor ihnen gewarnt und ihr gezeigt, wie sie aussahen und wie dumpf und zugleich scharf sie rochen, wenn man sich dicht über sie beugte. Sie hatte gewusst, dass sie einem Anfall nicht entgehen konnte und dass sie das lebensrettende Spray nicht bei sich hatte, und sie hatte auch gewusst, was das bedeutete: Sie war dem Anfall ausgeliefert, sie würde sterben, und es war nur eine Frage der Zeit.
Ich saß damals auf dieser Matratze und mir schien, als gäbe sie alle Erinnerungen meiner Tochter preis. Ihre Ängste, ihre Tränen, ihre Hoffnung, ihr Warten auf Rettung, auf menschliche Stimmen, die sie herausholten aus diesem Martyrium. Ich spürte dort oben ihren Kampf gegen die Angst, ihre Abwehr der Panik, das Aufkeimen des Anfalls, wie sich die Lungenflügel zusammenzogen, die Bronchien verengten, wie sich der Oberkörper anhob in dem vergeblichen Kampf, Luft in die Lungen zu pressen, der Mund sich öffnete und keuchte, bis der Druck selbst die Augen erreichte und kleinste Äderchen platzten und die Netzhaut mit winzigen Einblutungen übersäte.
Als ich mich schließlich erhob, versagten mir die Beine, und ich musste all meine Kraft aufbieten, um den Turm zu verlassen.
Den Ranzen und die Mütze ließ ich liegen. Ich konnte ihre Gegenwart nicht ertragen.
Das Einzige, was mich an dem Tag wieder ins Auto steigen und zurück nach Hamburg fahren ließ, war der Glaube, dass ich am nächsten Tag von Dr. Bruchsahl erfahren würde, wer meine Tochter entführt hatte und dass die Täter verhaftet würden.
Mein Glaube zerstob nur drei Stunden später.
Max Renner stand mit vier anderen Polizisten in unserer
Wohnungstür, als Kai gegen halb sieben auf das Klingeln öffnete. Er sah sich zwei gezogenen Revolvern gegenüber, dem von Max Renner und dem eines anderen Polizisten, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere.
»Ihre Frau ist wegen Mordes an Dr. Jörn Bruchsahl verhaftet«, sagte Max Renner. Ich saß in der Küche und trank einen Tee. Ich konnte an diesem Abend nichts essen. Ich hörte seine Stimme wie durch eine Nebelwand. Ich hörte ihre Schritte auf die Küche zukommen. Ich trank meinen letzten Schluck grünen Tee in Freiheit, und es war mir völlig gleichgültig.
Ich stand auf und hielt ihm die Hände hin, wie ich es in allen Kriminalfilmen gesehen hatte.
»Das ist nicht nötig«, sagte er und steckte die Waffe weg.
Die vier anderen standen im Korridor.
»Vielleicht wollen Sie Ihren Anwalt informieren?«, fragte er.
»Das ist nicht nötig«, sagte ich. »Ich habe ihn nicht getötet, und ob ich jetzt mit Ihnen gehe oder nicht, meine Tochter bringt es mir ohnehin nicht zurück.«
Ich erzählte Max Renner noch auf dem Weg zum Landeskriminalamt, wo meine Tochter gefangen gehalten worden war. Ich beschrieb den Turm und was ich dort gefunden hatte. Renner bekam einen Tobsuchtsanfall.
Als sie den Turm am nächsten Morgen untersuchten, war er frisch gesäubert und leer bis auf den Eimer und die Matratze. Die rote Mütze und der Ranzen meiner Tochter wurden nie gefunden.
Auf dem Eimer fanden sie meine Fingerabdrücke, und zunächst unterstellte
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