Im Zeichen der blauen Flamme
heiser hervor. »Ihr denkt gewiss: Er ist nicht von unserem Blut, er hat kein Recht, seine Stimme zu erheben. Aber ich leistete den Eid der Aiu-Utari. So lasst mich sprechen! Ich kenne die âºSisamuâ¹, denn sie sind mein eigenes Volk. Ihr König hat kein Herz, kein Ehrgefühl, kein Gewissen. Nichts ist ihm heilig, selbst seine eigenen Götter nicht. Er bedient sich dieser List, um die Aiu-Utari ins Verderben zu locken!«
Alle schwiegen, es war eine übernatürliche Stille. Dann sagte Kubichi in kühlem, ruhigem Ton: »Mein Bruder, der Schwarze Rabe, ist nicht mehr am Leben. Wie käme sonst sein Siegelring in meine Hand?«
Susanoo starrte auf das Schmuckstück, das mit stumpfem, kaltem Glanz im Fackellicht schimmerte. Er erinnerte sich, dass die Ainu ihren Ring mit in den Tod nahmen. Er erinnerte sich auch, dass es in ihrer Sprache kein Wort für »Lüge« gab. Ein tiefer, verzweifelter Atemzug hob seine Brust.
Kubichi lieà ihn nicht aus den Augen. »Es mag sein, dass du recht hast.« Ihre Stimme klang jetzt sehr sanft. »Vielleicht verbirgt die Botschaft tatsächlich eine Falle. Aber Karas ist tot und ich muss die Riten vollziehen.«
Er spürte sein Herz, seine Schläfen pochen. Und seltsam schmerzlich kam ihm die Erkenntnis, dass sie nie die gleiche Sprache sprechen würden. Er war und blieb ein Fremder. Was immer ich auch sage oder tun werde, dachte er, ich kann sie nicht zurückhalten. Sie wird ihre Pflicht gegenüber ihrem Volk, ihrem Glauben erfüllen.Er erinnerte sich an das, was er auf dem Heiligen Berg gesehen und erlebt hatte, an die Ehrfurcht vor der Gottheit. Nicht einmal zornig konnte er sein. Vorwürfe würden den Frieden ihrer Seele stören und die Aufgabe, für die sie alle Kräfte brauchte, erschweren. So senkte er den Kopf und verschloss seine Gedanken. Und als die Männer und Frauen in stumpfem Schweigen die Hütte verlieÃen, trat er wortlos hinter ihnen ins Freie.
Die Nacht war klar. Der Rauch der Lagerfeuer stieg schwach und bläulich in die Luft. Der abnehmende Mond funkelte wie eine Schmucksichel über den schwarzen Felsen. Verschlafene Vögel zwitscherten leise in den Zweigen.
Susanoo trat aus dem Baumdickicht hervor, ging langsam auf eine Lichtung zu, wo eine Quelle dem Boden entsprang. An dieser Stelle hatten die Ainu ein Gerüst aus Birkenzweigen als Opferstätte errichtet. Jedes Stammesmitglied brachte dort eine kleine Gabe dar: Amulette aus Silber und Kupfer, schön bestickte Lederstreifen, kleine geschnitzte Figurinen aus Knochen und Holz. Es hingen auch einige Bärenschädel und Hirschgeweihe an dem Gerüst.
Die bleichen Knochen schimmerten im Mondlicht. Susanoo betrachtete sinnend die Opferstätte. Auf dieser Lichtung war alles Wesentliche vereint: Steine, Bäume, Wasser und Tierknochen. Der Ort stellte einen symbolischen Lebensraum dar; hier vereinten sich die magischreligiösen Kräfte, die das Dasein der Ainu bestimmten. Schwarz hob sich das Gerüst gegen den saphirblauen Himmel ab. Nichts regte sich, auÃer dem aufkommenden Wind in den Blättern. Die Quelle sprudelte mit leisem Rauschen im Moos.
Susanoo atmete gepresst. Der Schweià klebte ihm am Rücken. Er legte sein Schwert nieder, tauchte die Hände ins kalte Wasser und besprengte sein Gesicht. Und dann vernahm er neben sich eine sanfte, klare Stimme: »Ich wusste, dass ich dich hier finden würde.« Er hob die Augen und sah sie unter einem Baum stehen. Die Blätter schaukelten über ihr, und der rotviolette Umhang schien mit dem Stamm verwachsen, an dem sie lehnte. Er richtete sich auf und steckte sein Schwert in die Schärpe. Ihre Blicke trafen sich. Er wandte das Gesicht ab; sie sollte nicht sehen, in welchem Zustand er war. Sie ging langsam an ihm vorbei, auf die Opferstätte zu, streifte ihren Armreifen aus Korallen ab und hängte ihn an einen Zweig. Die Korallen schimmerten wie Blutstropfen in der mondhellen Nacht.
Leise, wie zu sich selbst, sprach sie: »Wie könnte ich meinem Bruder das Glück verwehren, in unsere Himmlische Heimat zurückzukehren?«
Er senkte die Stirn. »Verlass mich nicht!«, brach es aus ihm heraus.
Sie betrachtete ihn mit traurigen, brennenden Augen. »Ich sehe meinen Bruder wie in einem Fiebertraum. Er irrt durch die Nacht und ruft mich. Nur meine Liebe zu ihm kann die Schatten zurückhalten, die seine Seele bedrohen. Lass mich gehen und
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