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Im Zeichen der blauen Flamme

Titel: Im Zeichen der blauen Flamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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zuwandte, die Hand zuerst an ihr Herz, dann an ihre Stirn führte. Er erwiderte ihren Gruß; sein Antlitz war wie aus Stein, doch sie sah, wie er sich auf die Lippen biss. Mit der gleichen zeremoniellen Bewegung nahm sie Abschied von den Häuptlingen. Die Augen vieler Männer füllten sich mit Tränen und einige Frauen schluchzten laut. Kubichi überquerte die Lichtung vor dem Zelt. Ihr Umhang schleifte über die taufeuchten Gräser. Sie stieg in den Sattel und gab Hokiji ein Zeichen vorauszureiten. Die Eskorte setzte sich in Bewegung. Das Stampfen der Hufe vermischte sich mit dem Geräusch unzähliger Stimmen, die wie das Summen eines Bienenschwarmes die Lichtung erfüllten. Die Sonnenstrahlen drangen durch das Unterholz und die feuchte Erde dampfte. Staub wirbelte auf und glitzerte in der Sonne. Susanoo hatte das Gefühl, dass die Reiter in dem goldenen Flimmern wie in einer Luftspiegelung entschwanden. Kubichis roter Umhang glänzte ein letztes Mal auf, dem Gefieder eines Märchenvogels gleich. Dann verschluckte sie der zitternde Dunst. Das Geräusch der Hufe verklang.
    Da erst wurde Susanoo sich schmerzhaft bewusst, dass sie sich kein einziges Mal umgeblickt hatte. Er erbebte, wie aus einem Traum gerissen, hob die Augen über die Baumkronen und sah einen Geier, der im klaren, reinen Licht seine Kreise zog. Und plötzlich überwältigte die Furcht seine Seele. Eisai stand neben ihm und erwartete seine Befehle. Er aber konnte die Menschen um sich herum nicht ertragen und zischte: »Geh mir aus den Augen!« Eisai erbleichte und zog sich schleunigst zurück.
    Susanoo ging in das Zelt, vor dem die Banner von Izumo wehten. Er kniete auf der Matte nieder und starrte in das Sonnenlicht, das gedämpft durch die Zeltbahnen drang.
    Er legte die Hand auf die Stelle, wo die junge Frau neben ihm geschlafen hatte; die Berührung war wie ein Strom, der ihm ins Blut ging und bis in sein Herz drang, und er erstickte fast vor Trostlosigkeit und Zorn. Er beschwor den Groll der Sonnengöttin, sämtlicher Kami und aller bekannten und unbekannten Gottheiten auf die Ainu und ihre ekelhaften, unverständlichen, verfluchten Sterberiten herab. Er rief seine Ordonnanz: »Bringt mir Wein!«, befahl er. Nachdem ihm das Gewünschte gebracht worden war, riss er das Keramikkännchen an sich, schickte den Mann mit einer Handbewegung hinaus und nahm einen kräftigen Schluck direkt aus dem Gefäß. Seine Wachen bekamen ihn vor Einbruch der Nacht nicht wieder zu Gesicht.
    Er wanderte durch das Lager, vorbei an den Hütten, wo die Mütter ihre neugierigen Kinder leise zurückriefen. Die Männer richteten Pfeile her, spitzten Bambuspfähle zu und verfertigten Bogen, Speere und Äxte. Ein Schmied arbeitete in einer flachen, offenen Grube, während zwei junge, halb nackte Helfer das Feuer schürten. Am Flussufer tränkten Männer aus Izumo ihre Pferde. Sie verneigten sich. Susanoo grüßte finster zurück. Ein Pferd hatte sich eine Verletzung zugezogen. Die Wunde hatte sich entzündet. Susanoo sah zu, wie der Stallbursche die Schürfung mit einem Kräuterabsud behandelte. Das Pferd wieherte und reckte den Kopf, sodass die Zügel klirrten. Wie lange brauchen Geier, um bei einem Leichnam die Knochen bloßzulegen?, dachte Susanoo. Einen Tag? Zwei Tage? Oder mehr?Müde fuhr er sich mit den Händen durch das lange Haar und knotete sein Stirnband fester. Seine Glieder schmerzten und sein Kopf war vom Wein benebelt.
    Sinnend ging er weiter. Die frische Abendluft brachte in seine Gedanken etwas Klarheit, doch nicht genug. Der Sonnenuntergang setzte ein, schillernd und Ehrfurcht einflößend, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Wolkenfetzen zogen über den Himmel, der sich rot und grün und golden färbte. Die Bäume waren in rötlichen Dunst gehüllt. Ein kupferner Mondsplitter wanderte über den Horizont, kaum groß genug, um einen Lichtschimmer auszusenden. Ein ununterbrochenes Gewirr von Geräuschen zog durch den Wald. Es war ein Knistern und Prasseln, ein Rauschen von Blättern und Zweigen, ein leichtes Stöhnen, das hier und da von einem hohlen Klopfen oder einem spitzen Schrei unterbrochen wurde. Susanoo wischte sich den Schweiß von der Stirn. Voller Unbehagen spähte er um sich, und plötzlich fuhr er herum, die Hand am Schwertgriff. Vor der Schattenwand der Bäume hob sich ein Schatten ab, der noch dunkler

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