Im Zeichen der blauen Flamme
war. Die Klinge war schon halb aus der Scheide, als er die Gestalt, die jetzt langsam näher trat, erkannte. Es war Tisina, die weise Frau. Susanoo stieà ärgerlich die Waffe wieder zurück und bewegte die Finger, um seine Gelenke zu lockern.
»Ihr Ainu seid alle gleich«, knurrte er unbeherrscht. »Ich wünschte, ihr würdet euch melden, bevor ihr euch heranschleicht.«
Sie ging auf seine Bemerkung nicht ein, betrachtete ihn mit ihren ruhigen, klugen Augen. Die Bäume zeichneten dunkle Muster auf Susanoos Gesicht und der schwache Mondschein schimmerte auf seinem Schwertgriff. Mit einem Mal stieà sie einen Seufzer aus.
»Der Wald spricht heute Nacht eine seltsame Sprache.«
Sein Atem stockte. »Wie meinst du das?«
Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich kann die Zeichen nicht deuten.«
»Deute sie!«
Es war ein Befehl, doch Tisina schwieg, als suche sie nach Worten. SchlieÃlich antwortete sie: »Meine Kräfte reichen nicht aus, um Zwiesprache mit den Geistern zu halten.«
Das Herz in seiner Brust begann, wild zu hämmern. Jetzt endlich verstand Susanoo. »Dann will ich es versuchen«, erwiderte er scharf und leise.
Sie erbebte. Er sah die Furcht in ihren Augen flackern. »Das kannst du nicht. Du bist nur ein Mann. Die Begegnung mit den Geistern ist den Frauen vorbehalten. Du würdest die Belastung nicht aushalten.«
Er lächelte geringschätzig. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mein Leben aufs Spiel setze!«
»Doch dieses Mal wagst du mehr als dein Leben.«
»Ich bin bereit«, entgegnete er kalt.
Einige Atemzüge lang starrten sie sich an, während der Schatten der Bäume im Mondschein tiefer über den Abhang kroch.
Dann neigte Tisina den Kopf. Ihr Gesicht wirkte grau und eingefallen. Kaum hörbar sprach sie: »Komm allein um Mitternacht zur Opferstätte. Ich werde dir beistehen.«
Sie wandte sich ab und verschwand zwischen den Bäumen, lautlos wie sie gekommen war, während er einsam in der Dunkelheit zurückblieb.
Später. Der Wald glich einem finsteren, ruhenden Meer und der Wind fand ein Echo in Höhlen voll tropfenden Wassers. An einigen Stellen drangen dünne Rinnsale aus dem Boden, sie glänzten zwischen den Steinen und dem feuchten Farnkraut. Susanoo ging dem Rauschen der Quelle nach und trat hinaus auf die Lichtung. Der Umriss der Opferstätte hob sich schwarz gegen den Nachthimmel ab. Die gebleichten Schädel und Geweihe wirkten wie gespenstische Riesengewächse und schienen einen eigenen, schwachen Schimmer auszustrahlen. Susanoo sah Kubichis Armreif noch immer an der gleichen Stelle hängen; ein schmerzhaftes Zucken ging über sein Gesicht. Dann bemerkte er, dass im Schatten des Gerüstes ein anderer Schatten kauerte, ein kleinerer, dunklerer. Als er näher kam, bewegte sich dieser Schatten und richtete sich auf. Einen Augenblick standen sie sich stumm gegenüber. Tisinas Schultern hoben und senkten sich bei jedem Atemzug. Ihr Gesicht war ausdruckslos, doch die Haltung des Kopfes war wachsam wie bei einem Vogel.
Dumpf sprach sie: »Hast du es dir auch reiflich überlegt?«
»Lass uns beginnen!«, erwiderte er ungeduldig.
Sie hockte sich auf die Steine und breitete einige Geräte vor sich aus. Etwas krächzte und bewegte sich: Es war ein Hahn, der mit zusammengebundenen Flügeln am Boden lag.
»Entledige dich deines Harnisches«, sagte Tisina.
Er schnallte die Lederriemen auf. Die Frau hielt ihm einen Umhang entgegen. Er war aus Leder, mit klirrenden Amuletten, Türkisen und Muscheln behangen. Auf der Vorderseite leuchteten zwei Brustplatten aus Bronze. Zwei weitere Platten waren an den Schultern angebracht.
Susanoo betrachtete ihn verwundert. »Aber das ist ja ein Frauenumhang!«
Tisina nickte bejahend. »Deine männliche Kraft würde nicht ausreichen, um die Angriffe der Geister abzuwehren. Du benötigst dazu noch die weibliche Kraft. Die Bronzeplatten werden deine Schulter- und Armgelenke schützen. Nimm ihn und lege ihn an.«
Er warf sich wortlos den Umhang um die Schultern. Ein scharfer, süÃlicher Geruch strömte von ihm aus. Etwas Seltsames geschah: Er spürte, wie ihn eine zusätzliche Kraft durchströmte. Sein Körper wurde schwerer, härter, weniger verwundbar.
Tisina begann, zwischen drei Steinen ein Feuer zu entfachen. Die drei Steine stellten die Erde dar. Das Feuer war das Symbol
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