Im Zeichen der Menschlichkeit
Machtwort der Alliierten werden das Präsidium und die Landesverbände des DRK abgewickelt. Eine Einrichtung aber ist während der folgenden Jahre zumindest im Westen derart präsent, dass sie fast zum Synonym fürs Rote Kreuz wird. Auch deshalb, weil sie wie kaum eine andere die Nöte dieser schweren, ungewissen Zeit verkörpert: der Suchdienst. Oder vielmehr die Suchdienste, denn neben dem DRK -Suchdienst mit seinen Zentralen in Hamburg und München leisten auch der Internationale Suchdienst ( ITS ) in Bad Arolsen und der Kirchliche Suchdienst ( KSD ) mit seinen Heimatortskarteien unentbehrliche Dokumentationsarbeit.
Letzte Nachricht vom …
Klein, Klein, Klein. Maier, Mayr, Meier, Meyer. Zimmermann, Zimmermann, Zimmermann. Wenn Heinrich Rehberg durch die Reihen der Regale in der Münchner Zentralkartei geht, buchstabiert er den Krieg. Vom Boden bis zur Decke und von einer Wand zu anderen stehen die hölzernen Karteikästen Schulter an Schulter. Auf drei Kästen »Helmut Schulz« folgen drei Kästen »Herbert Schulz«. Jeder umfasst etwa zweitausend Karteikarten. Und damit zweitausend Menschenleben. Von denen der Krieg die meisten auf dem Gewissen hat. Ganze Provinzen haben nach Kriegsende die Staatsangehörigkeit gewechselt, ganze Städte sind getilgt worden, ganze Divisionen ausgelöscht. Verkehrs- und Kommunikationswege funktionieren nicht mehr, von Ämtern ganz zu schweigen. Wie soll man unter diesen Bedingungen Millionen von Vermissten finden? Wie elf Millionen deutsche Kriegsgefangene und dreizehn Millionen Heimatvertriebene erfassen? Jeder vierte Deutsche ist nun ein Suchender oder ein Gesuchter, manchmal auch beides. Er fahndet nach seinen Angehörigen: Leben sie noch? Und wenn ja, wo? Oder sind sie tot? Im Falle vermisster Soldaten ist Letzteres weitaus wahrscheinlicher. Es herrscht quälende Ungewissheit, über Jahre und Jahre hinweg. Begleitet von verzweifelten Hoffnungen: Sind nicht selbst Männer wieder aufgetaucht, deren Namen schon ins Kriegerdenkmal ihres Heimatdorfes eingemeißelt worden waren?
Die Geschichte des Suchdienstes beginnt in den letzten Kriegstagen in Flensburg. Die Straßen quellen über vor Flüchtlingen, die per Schiff über die Ostsee gekommen sind. Dazwischen abziehende Soldaten, demobilisierte Matrosen und heimkehrende Verwundete. Der Krieg hat sie einfach hier angespült, hat sie abgesetzt und ausgespuckt, und sie können heilfroh sein, dass sie noch leben. Doch wohin jetzt? Wie finden sie die, die zu ihnen gehören?
Aus improvisierten Anfängen entsteht eine Institution, die die seelische Trümmerlandschaft der Nachkriegszeit aufzuräumen versucht. Die Klarheit anstelle von Mutmaßungen setzen will und Gewissheit anstelle von Zweifel. Als Vorbild dienen jene Nachforschungsagenturen, die das Internationale Komitee 1870 und 1914 eingerichtet hat. Doch damals hatte es sich um vermisste Soldaten gehandelt, deren Verbleib dank gut organisierter Heeresverwaltungen meist ermittelt werden konnte.
Nun aber hat man es mit Verlusten von beispiellosem Ausmaß zu tun. Waren in Solferino einst rund viertausend Soldaten in Gefangenschaft geraten, sind es jetzt zehntausendmal so viele: an die vierzig Millionen. Hinzu kommen Abermillionen vermisster Zivilpersonen.Die Fahndung erfolgt nach einem einleuchtenden Prinzip: Jede Anfrage besteht aus einer Stammkarte mit den Personalien des Suchenden sowie aus einer Suchkarte mit den Daten des Gesuchten. Beide werden in den Annahmestellen in Namenskarteien einsortiert, die später in die zentrale Namenskartei in München überführt werden. Startet der Gesuchte seinerseits eine Anfrage, begegnen sich Stamm- und Suchkarten irgendwo in den Tiefen des Archivs. Die Mitarbeiter nennen das eine »Hochzeit«, eine Suche mit Happy End. Bei Flüchtlingen, die in alle Himmelsrichtungen versprengt worden sind, funktioniert das System gut: »Wir nehmen mit Bestimmtheit an, daß Sie der gesuchte Bruder sind.« Was aber, wenn der Gesuchte tot ist? Oder in Gefangenschaft? Oder in einem der ostdeutschen Speziallager einsitzt, aus dem er nicht schreiben darf? Der Eiserne Vorhang hat sich zwar noch nicht ganz gesenkt, dafür aber bestehen selbst innerhalb Deutschlands beträchtliche Barrieren. Als sich Vertreter verschiedener Suchdienste im Januar 1946 zu ersten überregionalen Beratungen treffen, werden sie prompt verhaftet – die Alliierten erlauben noch keine Organisation über die Zonengrenzen hinweg.
In einem Büro des DRK-Suchdienstes im Lager Friedland
Weitere Kostenlose Bücher