Im Zeichen der Menschlichkeit
Heimkehrer, und Joachim Fuchsberger wirkt als Sprecher für die Rundfunkdurchsagen, die den Alltag der Nachkriegsgesellschaft als tragische Litanei untermalen, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Die Verschollenenlisten erscheinen schließlich sogar in Buchform. Eine Enzyklopädie der Verzweiflung, die am Ende zweihundert Bände umfasst, jeder mit etwa siebenhundert Seiten, auf denen steckbriefartig je zwanzig Männer gesucht werden: Name, Beruf, Geburtsdatum, Heimatgemeinde, Ort und Zeit der letzten Nachricht (»Stalingrad 1 /43«). Dazu, soweit vorhanden, ein Foto des Vermissten. Jeder Kreisverband erhält einen kompletten Satz und schickt einen Kleinbus damit durch die Lande. In Gaststätten oder Rathäusern zeigen Rotkreuzhelfer den Heimkehrern dann die Nichtheimgekehrten, jede Woche in einem anderen Ort. Die Protokolle dieser Befragungen zeugen von ihren mühsamen Recherchen: »Entsinnt sich nicht mehr … unbekannt verzogen … bereits Auskunft gegeben«. Doch manchmal heißt es: »Auskunft liegt bei.«
Die labyrinthischen Registraturen des Münchner Suchdienstes bewahren auch diese Aufzeichnungen bis heute. An nur wenigen Orten wird das ungeheure Ausmaß, in dem menschliches Leben im Krieg zerstört und vergeudet worden ist, so unmittelbar anschaulich wie hier. Heinrich Rehberg geht zurück durchs Spalier der Regale und nimmt einmal mehr die Namensparade ab: Weber, Weber, Weber. Schmitt, Schmidt, Schmid. Der häufigste von allen füllt mit 300000 Fällen allein schon einen Gang: eine ganze Armee mit Namen Müller.
Kriegskinder
»Hamburg will Euch, den in Not befindlichen Flüchtlingen, entlassenen Soldaten und anderen am Leben verzweifelnden Opfern der Verhältnisse beweisen: Ihr seid nicht verlassen! Ihr dürft nicht untergehen!« Der Aufruf von Bürgermeister Petersen verhallt nicht ungehört. Anfang des Jahres 1946 beginnt in der britischen Besatzungszone eine der wichtigsten Hilfsaktionen der Nachkriegszeit. Wenngleich auch andere Länder in edelmütiger Weise helfen, so hat sie sich doch vor allem als »Schwedenspeisung« ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Gemeinsam mit weiteren Hilfsorganisationen gewährleisten das Schwedische und das Hamburger Rote Kreuz über drei Jahre hinweg diese tagtägliche Überlebenshilfe. Sie kommt vor allem Kleinkindern zugute, die nicht die von den Briten kostenlos ausgegebene Schulspeisung erhalten.
Nachkriegszeit in Deutschland: Ein Lastwagen des Roten Kreuzes bringt Sachspenden aus Schweden in ein verschneites Dorf in Franken.
© DRK
Wie nach dem Ersten Weltkrieg, so dienen Kinder auch jetzt wieder als Botschafter eines besseren Deutschland – und verkörpern zugleich dessen Hilflosigkeit und Schutzwürdigkeit. Bleich und ausgemergelt streunen sie durch die Straßen. In den Behelfsunterkünften schlafen sie zu zweit auf einer Pritsche. Krätze, Rachitis und Keuchhusten grassieren, auch Tuberkulose im Frühstadium. Und manches Schulkind ist so schwach, dass die Erwachsenen ihm in der Straßenbahn ihren Sitzplatz anbieten. Vor allem der strenge Winter 1946 /47 bringt das Land an den Rand der Katastrophe. Am schlimmsten betroffen ist das Ruhrgebiet, für das ebenso der Notstand ausgerufen wird wie für Berlin und Hamburg. In der Stadt an der Alster verwandeln ganze Brigaden von Rotkreuzhelfern den Schlachthof in die größte Küche Europas. In zweihundert Kesseln wallt Nudel-, Erbsen oder Haferflockensuppe. In Kirchen, Schulen und Fabriken werden pro Tag bis zu 50000 Portionen verabreicht, dazu gibt es Knäckebrot und einen Löffel Lebertran. Graf Folke Bernadotte, Präsident des Schwedischen Roten Kreuzes, beschreibt die Atmosphäre in einer solchen Ausgabestelle: »Die Kinder kommen mit ihren dürftigen Blechgefäßen. Der Saal ist unwirtlich und öde; sieht man aus dem Fenster, so hat man die typische Ruinenlandschaft vor sich. An den Wänden einige Anschläge: Es ist der im ganzen Lande tätige Suchdienst, der vom Winde verwehten Kindern wieder zu ihren Eltern verhelfen will.« In Mantel und Mütze sitzen sie um die Tische und essen um ihr Leben.
Schwedenspeisung in Hamburg: Statt Suppenteller nutzen die Kinder Konservendosen aus den CARE-Paketen.
© O. Metelmann / DRK
Auch die Schweiz hilft im großen Stil mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Hausrat und der Bereitstellung von Notunterkünften. Und wie schon nach dem Ersten Weltkrieg nimmt sie bedürftige Kinder aus ganz Europa auf, darunter 44000 aus Deutschland. Doch wer gilt als bedürftig? Die
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