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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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Internierungslagern. Einer der größten Deportationszüge geht Weihnachten 1946 von Breslau nach Bückeburg. Eingepfercht in Viehwaggons, sind 1500 Menschen eine Woche lang unterwegs. Drei Tage brauchen sie allein bis Görlitz, immer wieder steht der Zug auf Abstellgleisen. Bei strengem Frost erleidet fast jeder Erfrierungen; nur einmal bekommen sie etwas Brot und Suppe. Eines Nachts wird Dr. Loch, einer von zwei Ärzten, in einen der Waggons gerufen. »Irgendwo im Dunkeln lag eine schreiende Frau. Über Klosetteimer und schlafende Menschen kletterte ich zu ihr. Eine alte Frau weigerte sich, Platz zu machen – sie war tot. Die schreiende Frau lag in den Wehen, Frühgeburt. Bei dem Versuch, sie in eine bessere Lage zu bringen, entdeckte ich, daß sie festgefroren war, durch ihr eigenes Blut. Mit Hilfe eines Spirituskochers bereiteten wir aus Eisstücken heißes Wasser, dadurch bekam ich die Unglückliche endlich frei. Ich entfernte die Frucht. Mit einer Injektion konnte ich das Blut zum Stillstand bringen. Bei dieser Arbeit habe ich mir selbst beide Füße erfroren.« Die eine Hälfte der Flüchtlinge wird in Hameln aufgenommen, die andere in Bückeburg. Rotkreuzhelfer erwarten sie an den Bahnhöfen und versorgen sie mit dem Nötigsten. Neunzig Menschen sterben danach noch im Bückeburger Krankenhaus. Darunter auch die Ehefrau von Dr. Loch.
    Die Oberin, Eva Spyra und vier weitere Breslauer Schwestern haben sich unterdessen nach Lüneburg durchgeschlagen. Das Städtische Krankenhaus braucht dringend Pflegepersonal. Anfangs schlafen sie im Dienstzimmer, bis das neue Mutterhaus entsteht. Sie beginnen mittellos, freuen sich über eine Ladung Torf oder ein Fass Salzheringe als Spende. Mit dem Fahrrad ziehen sie quer durch Deutschland, um versprengte Mitschwestern aufzuspüren; einige weitere können sie über den Suchdienst des Roten Kreuzes ermitteln. Und so gelingt siebzig Augusta-Schwestern in Lüneburg ein neuer Anfang.

    Schwesternschülerinnen des Breslauer Augusta-Hospitals. Nach der Vertreibung versuchen einige von ihnen in Lüneburg einen Neuanfang.
    © H. Radike
    Bei ihrem Besuch in der alten Heimat sechzig Jahre später erkennt Schwester Ruth das Krankenhaus sofort wieder. Einschusslöcher in der Fassade zeugen noch von den Tagen der Belagerung. Wandschränke, Fliesen und Fußböden scheinen unverändert. »Das war der Männersaal, das die Wäscherei.« Im Rollstuhl schieben die Mitschwestern sie durch die Gänge. Bislang kannten sie Breslau nur aus den Erinnerungen der alten Damen, die sie im hauseigenen Seniorenheim pflegen und die manchmal wehmütig von der schlesischen Heimat erzählen, vom Oderstrom und von der Schneekoppe. Die wirklich schlimmen Erlebnisse aber behalten sie für sich. Mit der ihrer Generation eigenen Disziplin und Härte versuchen sie, unbewältigte Kriegstraumen in Schach zu halten. Doch in Alpträumen suchen die Schemen von damals sie heim. Mal sind es »die Männer«, mal »die Russen«, mal einfach nur »sie«. »Sie kommen wieder! Mach die Tür zu, schließ alles ab!« Oder: »Die Männer sind in meinem Bett.« Da schützte sie auch das Rote Kreuz nicht, nicht die Haube, nicht der Helferberuf. Die Nachtschwestern hören ihr Stöhnen, schalten das Licht an und versuchen zu trösten. Manchmal schenken sie ihnen auch ein Gläschen Rotwein ein.
    Auch das Sterben dieser Generation ist ein anderes, ist kontrollierter und diskreter, als es sonst heute geschieht. Sie schicken die Mitschwestern nach draußen, sie wollen ihren letzten Weg alleine gehen. Nach der Aussegnung im Haus werden sie im großen Gräberfeld der Schwesternschaft bestattet. Die Haube kommt mit in den Sarg.
    Das Schicksal der Augusta-Schwestern ist nur ein Beispiel für die nachhaltigen Verheerungen, die dieser Krieg angerichtet hat. Fast alle, die ihn überstanden haben, werden für den Rest ihres Lebens mit seinen Gespenstern ringen. Meist schweigend, meist vergeblich. Und auf vertrackte Art werden sie dieses stumme Vermächtnis an die nachfolgende Generation weitergeben.
    Die Stunde null
    Die ungeheueren Verbrechen, die das nationalsozialistische Regime unter dem Deckmantel des Krieges begangen hat, werden nun nach und nach ruchbar. Sie bewirken eine tiefe Krise der Humanität, ein Verzweifeln an der Menschheit überhaupt. Gleichzeitig ist Hilfe angesichts der Verwüstungen dringender nötig denn je. Doch welche Organisationen sind dazu überhaupt imstande, welche glaubwürdig? Das gesamte Gefüge der bisherigen

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