Im Zeichen der Menschlichkeit
Schweizer Ärztinnen, die in Oberhausen eine Vorauswahl treffen sollen, können sich kaum entscheiden: »Nötig haben sie es alle.« Das Rote Kreuz übernimmt vor allem die komplizierte Logistik. Sonderzüge der Schweizer Bundesbahnen dampfen quer durch alle Besatzungszonen; selbst während der Berlin-Blockade 1948 verkehren sie mit beruhigender Zuverlässigkeit. Die Kinder werden für etwa vier Monate bei Gastfamilien untergebracht, besonders geschwächte auch über ein Jahr. Sie gehen in der Schweiz zur Schule, helfen auf dem Hof und unternehmen Ausflüge. »Hier kommt der Milchmann vors Haus gefahren, der Bäcker bringt das Brot, beim Fleischer kann man Fleisch bestellen«, berichtet ein Mädchen ungläubig. Die Gastgeber machen ihnen ein ebenso unkäufliches wie unbezahlbares Geschenk: Mitmenschlichkeit. Wenn die Kinder dann zurückkehren, erkennt manche Mutter ihren Sprössling nicht wieder. »Dicke Backen, sonnengebräunt, in neuen Kleidern und Schuhen, mit Paketen und Koffern voll süßer Geschenke für sich und die Geschwister beladen«, staunt die Lokalzeitung in Ludwigshafen.
Deutschland hat solche Unterstützung bitter nötig; der »totale Krieg« hat es in den totalen Ruin geführt. Zu den wenigen, die versucht haben, ihn aufzuhalten, gehörten die Verschwörer des 20. Juli 1944. Sie wurden hingerichtet, ihre Frauen interniert, ihre Kinder verschleppt. Gräfin Üxküll berichtet davon in ihren Erinnerungen. Ihr Bruder Nikolaus und drei ihrer Neffen – Berthold und Claus Schenk Graf von Stauffenberg sowie Caesar von Hofacker – hatten zum Kern des Widerstands gehört. Auf Himmlers Befehl wurden ihre Kinder in einem Heim im Harz interniert, von wo sie kurz vor Kriegsende nach Buchenwald deportiert werden sollten. Es klingt wie ein Märchen, aber gerade als sie am Bahnhof von Nordhausen ankamen, wurde dieser durch einen Luftangriff zerstört. Die Kinder kehrten unversehrt zurück ins Heim, wo Üxküll sie am 8. Juni ausfindig machen konnte. »Ihr braucht euch eurer Väter nicht zu schämen, denn sie waren Helden«, gab der neue Bürgermeister ihnen noch mit auf den Lebensweg.
Doch im Nachkriegsdeutschland gelten die Männer des Widerstands weithin als Verräter. Ihre Familien bleiben auf sich gestellt, die Frauen erhalten weder Witwenrente noch Lebensmittelmarken. Da meldet sich im Januar 1947 ein Berner Arzt, Albert von Erlach, bei den Hinterbliebenen: »Ich beabsichtige, wenn immer möglich, den Kindern der unglücklichen Opfer des 20. Juli einen Erholungsaufenthalt in der Schweiz zu ermöglichen.« Etwa fünfzig dieser Kinder, fast alles Halbwaisen, kommen teils bei Pflegefamilien und teils in einem Heim bei Interlaken unter. Die meisten für drei Monate; bei Ingo von Knobelsdorff werden sogar achtzehn Monate daraus. Seit der Vertreibung aus Schlesien ist er in einem kritischem Zustand: »Wie oft meine Mutter und Großmutter unter Tränen gesagt haben, den kriegen wir nicht durch, weiß ich nicht mehr. Als ich kurz vor dem Ende stand, fand ich mich in einem Zug nach Basel wieder. Er war beheizt, und wir bekamen zu essen und zu trinken.«
Reise in eine heile Welt: Kinder aus Darmstadt brechen 1953 zu einem vierwöchigen Erholungsaufenthalt in Davos auf.
© Stirtz / DRK
Die letzte große Aktion für kleine Leute ist die Kinderluftbrücke, über die von 1953 an Berliner Kinder zu Gastfamilien nach Westdeutschland ausgeflogen werden. Ein ganzes Geschwader von Frachtflugzeugen der amerikanischen Luftwaffe brummt am Flughafen Tempelhof. In jeder der spartanisch ausgestatteten Maschinen sitzen zwei Dutzend Kinder und zwei Betreuerinnen des DRK eng nebeneinander auf seitlich angebrachten Bänken, die Koffer in der Mitte, ein Kärtchen mit ihren Personalien umgehängt und ein Rotkreuzfähnchen in der Hand. Die künstliche Insel West-Berlin bangt um ihr Überleben, da signalisiert eine so publikumswirksame Aktion Freiheit und Beistand. Dietrich Blos, langjähriger Präsident des Berliner Roten Kreuzes, erinnert sich: »Gut erholt kamen unsere Kinder zurück, reich beschenkt, viele von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Einige große Jungen brachten sogar einen Lehrvertrag mit, in der damaligen Zeit fast das große Los in der Lotterie des Lebens.« Bis 1957 kommt die Aktion rund elftausend Kindern zugute.
Mit der Gesundung der Kinder geht auch ein sozialer Genesungsprozess einher. In einer Gesellschaft, die neu zusammenfinden muss, übernimmt das Rote Kreuz eine wichtige integrierende Funktion. So auch im
Weitere Kostenlose Bücher