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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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    FRIEDRICH HÖLDERLIN, PATMOS
    In Dunants Jugend kennt Genf weder Eisenbahn noch elektrische Beleuchtung, und auch wenn vereinzelt schon Dampfschiffe den See befahren, bestimmen doch Ruderboote und Lastensegler das Bild. Um 1860 aber setzt eine stürmische Entwicklung ein. Nie zuvor hat die Welt sich innerhalb einer Lebensspanne derart grundlegend verändert. Die großen Bahngesellschaften, die Banken- und Industrie-Imperien entstehen, und die Staaten Europas wachsen sich durch ihre Kolonien zu Weltreichen aus. Im Alter erblickt Dunant einen Zeppelin, der wie ein Fabelwesen über dem Bodensee auftaucht. Die ersten Postautos durchkurven die Schweiz, während Forscher und Abenteurer schon um die Eroberung der Pole wetteifern. Die Physiker entdecken Röntgenstrahlung und Radioaktivität, und in Bern entwickelt ein wenig ausgelasteter Mitarbeiter des Patentamts die Relativitätstheorie. Während in Zürich ein etwas aus der Art geschlagener russischer Aristokrat unter dem Decknamen Lenin die Weltrevolution ausbrütet. Spätestens, als diese Entwicklung im Ersten Weltkrieg gipfelt, wird offenbar, dass auch die Mächte der Zerstörung in einem Maße fortgeschritten sind, mit dem die Menschheit – oder zumindest die Menschlichkeit – nicht Schritt zu halten vermag. Die Entwicklungsgeschichte des Roten Kreuzes muss als Teil dieser gewaltigen Dynamik verstanden werden.
    1861 bricht der amerikanische Bürgerkrieg aus. Die Debatten darüber rufen bei Dunant die Bilder aus Oberitalien wach. Im Sommer 1862 bringt er seine Erinnerung an Solferino zu Papier. Diese Schrift wird alle spätere Rotkreuzarbeit als ein unhintergehbares Manifest begleiten, als erster Anlass und letzter Grund. Immer wieder haben sich, angefangen mit Gustave Moynier, tief berührte Menschen nach der Lektüre darangemacht, »ein wenig Licht in die Welt zu bringen«. Der gut hundert Seiten umfassende Text ist fortlaufend geschrieben. Dennoch lassen sich drei Teile klar voneinander unterscheiden: Der erste rekapituliert die Schlacht, der zweite schildert die Erlebnisse des Autors in Castiglione, und der dritte zieht humanitäre Folgerungen daraus.
    Auch wenn Dunant die Schlacht nicht persönlich miterlebt hat, will er möglichst unmittelbar davon erzählen. So führt er einen »Zuschauer auf den Höhen nahe Castiglione« ein, der die Ereignisse in einer Art zeitgeschichtlichen Reportage wiedergibt: »Sie holen sich gegenseitig von den Beinen, zerschmettern dem Gegner den Schädel, schlitzen einer dem anderen den Bauch auf. Es ist ein allgemeines Schlachten, ein Kampf wilder, wütender, blutrünstiger Tiere.« In einer Zeit, in der sich die Fotografie gerade erst entwickelt, ist das wichtigste Medium der Kriegsdarstellung nach wie vor die Sprache. Die gängigen Berichte aber sind mit Pathos gesättigt und beschränken sich meist auf den militärischen Schlagabtausch.
    Dunant schreibt dort weiter, wo andere aufhören. Seine Helden sind die Opfer. Indem er den Nimbus des Krieges mit der niederschmetternden Realität in den Tagen danach konfrontiert, entzaubert er ihn gründlich. »Armer Märtyrer, für dich wäre es besser gewesen, wenn dich auf dem Schlachtfeld eine Kugel tödlich getroffen hätte, inmitten jener prächtigen Schrecken, die man den Ruhm nennt!« Dieser Ton wirkt auch deshalb so frappierend auf die Zeitgenossen, weil er in den meisten europäischen Staaten unterdrückt worden wäre. Da Dunant seinen Bericht jedoch im Selbstverlag und in der neutralen Schweiz veröffentlicht, unterläuft er die Zensur. Als er von seinen Erlebnissen in Castiglione berichtet, gebraucht er die Ich-Form dann häufiger. »Ein junger Korporal ist getroffen. Sein Zustand ist hoffnungslos, und er weiß es selbst. Ich helfe ihm beim Trinken, er dankt mir, und mit Tränen in den Augen fügt er hinzu: ›Ach, Monsieur, wenn Sie doch meinem Vater schreiben wollten, er solle meine Mutter trösten!‹ Kurz darauf haucht er sein Leben aus.« Es sind solch abgründige Szenen, die den Kern der Erinnerung ausmachen und den zeitgenössischen Leser berühren. Abschließend plädiert Dunant für »die Gründung von Hilfsgesellschaften für Verwundete«. Auch müsse »eine internationale, rechtsverbindliche und allgemein hochgehaltene Übereinkunft« zum Schutz des medizinischen Personals getroffen werden. Die beiden Grundideen der Rotkreuzbewegung und der Genfer Konvention sind damit bereits festgehalten.

    Kleines Buch mit großer Wirkung: Dunants »Erinnerung an Solferino«

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