Im Zeichen der Menschlichkeit
für Kinder, ca. 1550 Personen. – 20 Uhr: Dienstende. Küche zu. Warme Getränke hingestellt für 1600 Personen. Um 22 Uhr kommt die zweite Küche. Dritte Küche angefordert und 15000 Essen mit Getränken.
28. September: Nachts erste große Müllaktion wegen Seuchengefahr. Gestern wurde für uns ein Büro ausgeräumt, ca. 20 m ² , dort stellen wir 3 x 3 Etagenbetten auf und 3 Matratzen.
29. September: Um 11 Uhr kommt die dritte Küche an. Sie wird sofort aufgestellt und in Betrieb genommen. Ca. 4000 Portionen.
30. September, 12 Uhr: Erbsensuppe + 1 Joghurt. – 19 Uhr: Rede von Herrn Genscher. Verabschiedung an der Pforte mit Getränk, Schokolade, Obst. Am nächsten Morgen haben alle Flüchtlinge das Lager verlassen.
1. Oktober, 14 Uhr: Sauerkraut + Püree + Kasseler für zehn neue Flüchtlinge. Lange Tafel im Hof, gemütlich gegessen einschließlich Botschafter nebst Gattin. – 17 Uhr: Das Eingangstor geht auf, wir werden von 500 Flüchtlingen überrascht. – 24 Uhr: Dritte große Müllaktion gestartet.
2. Oktober, 12 Uhr: Ravioli + Joghurt für ca. 3000 Personen. Vierte Küche angefordert. Schichtdienst in den Nachtstunden.
4. Oktober, 12 Uhr: Suppe querbeet, was erreichbar war. Ca. 10000 Personen. – 2 Uhr: Ausreise abgeschlossen. Die Botschaft wird nicht leer, da schon neue Flüchtlinge kommen.
5. Oktober, 14 Uhr: Übergabe Lager und Küche an neue Mannschaft. Zu Fuß in die Stadt, alle Verantwortung und Anspannung ist abgelegt. Gemeinsames Abschiedsessen in der Stadt.
6. Oktober, 18 Uhr: Grenzformalitäten erledigt, wieder in Deutschland. Erste Nacht in einem Bett geschlafen, mehrere Stunden in Ruhe und zusammenhängend.
Rudolf Seiters, der heutige Präsident des DRK , ist damals als Kanzleramtsminister während der wochenlangen Verhandlungen über eine Ausreise federführend. Gemeinsam mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher fliegt er schließlich nach Prag, um den Flüchtlingen die erlösende Nachricht zu überbringen. Trotz Dauerregen wird es ein Freudentag. »Vom Balkon aus blickte ich auf die großen Zelte im Botschaftsgarten, in denen die zur Flucht fest entschlossenen DDR -Bürger Unterschlupf und Versorgung gefunden hatten«, erinnert er sich. »Das war mein Schlüsselerlebnis mit dem Roten Kreuz. In einer so schwierigen Situation war dessen Hilfe von unschätzbarem Wert.« Nach Genschers Ansprache tauscht Seiters sich mit Flüchtlingen und Helfern aus. Viel Zeit bleibt nicht, denn nun muss die Aufnahme der Flüchtlinge an der Grenze vorbereitet werden. In drei Schüben werden sie mit Sonderzügen evakuiert; die ersten verlassen Prag noch in derselben Nacht. Das SED -Regime besteht darauf, sie in einem weiten Umweg quer durch die DDR nach Bayern zu leiten, um den Besitzanspruch an seinen Bürgern vorzuführen und ihre Ausreise als »Ausweisung« deklarieren zu können. Mitarbeiter der Staatssicherheit ziehen während der Fahrt die Pässe ein. In den folgenden Tagen bemächtigen sie sich auch der etwa 1500 Autos, welche die Flüchtlinge in Prag zurücklassen mussten. Wie bei einem erbitterten Scheidungskrieg legt die Staatsmacht es darauf an, die Abtrünnigen bis zum Schluss zu demütigen.
Bei der Durchreise kommt es im Dresdener Hauptbahnhof, aber auch entlang der Strecke zu Massenaufläufen und chaotischen Szenen. Im oberfränkischen Hof, der ersten Station auf bundesdeutschem Gebiet, erwarten dreihundert Helfer die Züge. Neben dem Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen sind auch Grenzschutz, Zoll und Feuerwehr im Großeinsatz. Notunterkünfte werden eingerichtet, und mit der Menge an ausgegebener Suppe könnte man ein ganzes Schwimmbecken füllen. Der Suchdienst übernimmt die Registrierung der Neuankömmlinge und hilft in den folgenden Monaten bei der Familienzusammenführung. Der Überschwang der westdeutschen Bevölkerung manifestiert sich in einer Flut von Hilfsgütern. Nachdem alle versorgt sind, bleiben auf dem Bahnhof noch sechzehn Gepäckwagen übrig, überbordend vor Kleidung und Sachspenden. Die Neuankömmlinge schwanken zwischen Euphorie, Erschöpfung und buchstäblich grenzenloser Erleichterung. Die meisten fahren schließlich weiter zu Verwandten, Freunden oder zu Aufnahmelagern im Hinterland.
Die unerhörten Ereignisse fachen die politische Diskussion in der DDR kräftig an. Das dortige DRK stellt sich weiter unbeirrbar hinter das Regime. Am 19. Oktober 1989 geht ein Fernschreiben an alle Bezirksverbände: »Das Büro des Präsidiums erklärt im Namen seiner 1,2
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