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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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»Ausbluten des Ostens« im Blutspendewesen unmittelbar anschaulich. Anfang 1990 melden Ost-Berlin und das Umland einen dramatischen Rückgang der Blutkonserven. Scharen bewährter Spender wenden sich nun an West-Berliner Kliniken oder andere Einrichtungen, die harte Währung dafür bieten. Während die Rotkreuzstellen in Ost und West traditionell unbezahlte Spenden propagieren.
    Der Suchdienst erfährt eine unerwartete Renaissance. Der Fall des Eisernen Vorhangs führt zu Massenverschiebungen, wie Mitteleuropa sie zuletzt bei Kriegsende erlebt hat. Entsprechend hoch ist die Zahl der Menschen, die ihre Angehörigen aus den Augen verloren haben. Andere wiederum wollen gar nicht gefunden werden: In etwa 40000 Fällen liefern ausbleibende Unterhaltszahlungen den Anlass für die Suche. Auch tragikomische Schicksale sind darunter, wie der Fall jenes Saisonkellners, nach dem sechs Frauen mit insgesamt fünf Kindern fahnden. Vereinzelt melden sich auch Kinder von Regimekritikern oder »Republikflüchtlingen«, die in Umerziehungsheime gesteckt oder zwangsweise zur Adoption gegeben worden waren.
    Zugleich schnellt die Zahl der Aussiedler aus Osteuropa in die Höhe, denen der Suchdienst beim Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit und bei der Familienzusammenführung hilft. Endlich erhält der Dienst nun auch Zugang zu russischen Archiven, so dass viele Tausende Kriegsschicksale vervollständigt werden können. Auch Unterlagen zu den sowjetischen Speziallagern und den frühen DDR -Gefängnissen werden freigegeben; so lässt sich nicht nur der Verbleib von 123000 Inhaftierten aufklären, sondern auch Einblick in die Mechanismen des kommunistischen Herrschaftssystems gewinnen. Der ehemalige Suchdienst der DDR wird dem Standort München zugeordnet.
    Parallel halten aktuelle Konflikte die Mitarbeiter in Atem, vor allem die Jugoslawienkriege. Gemeinsam mit dem Internationalen Komitee übermittelt der DRK -Suchdienst dabei rund 400000 Familiennachrichten. Der Postverkehr ins belagerte Sarajewo läuft praktisch komplett über das Rote Kreuz. Einige Jahre später sorgt der Kosovokrieg erneut für Hochbetrieb in den Büros und Callcentern des Suchdienstes. Zehntausende von Flüchtlingen gelangen nach Deutschland und versuchen von hier aus, Auskunft und Kontakt zu ihren im Kosovo gebliebenen Angehörigen zu bekommen. Als dann im Jahr 2000 die Stiftung zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter geschaffen wird, werden die Suchdienste mit Anfragen aus Osteuropa schier überschwemmt, da sie am ehesten Nachweise über deren Einsatz erbringen können. Im Jahr darauf zieht das Generalsekretariat des Roten Kreuzes von Bonn nach Berlin, womit ebenfalls eine gewisse Gewichtsverlagerung nach Osten einhergeht.
    Café Augenblick
    Seit der Wiedervereinigung verfügt das Rote Kreuz nun wieder in ganz Deutschland über eine breite Palette von Arbeitsfeldern. Einige der wichtigsten sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Die Wohlfahrts- und Sozialarbeit etwa, die in der DDR eine untergeordnete Rolle spielte, zählt heute in beiden Landesteilen zu den Kernbereichen der Verbandsarbeit. Das umfangreiche Leistungsangebot wirkt beinahe wie ein Werkzeugkasten für gesellschaftliche Probleme. Bis in die Gegenwart hinein trägt das Rote Kreuz die Signatur seiner Zeit, spiegelt die jeweiligen Erfordernisse, Moden und Probleme.
    So engagiert sich die Organisation seit Anfang der neunziger Jahre verstärkt auch für besonders benachteiligte Gruppen wie Menschen mit Behinderung, Obdachlose oder psychisch Kranke. In Berlin-Steglitz arbeitet Ingrid Gandert 1990 ehrenamtlich für den Besuchsdienst des Roten Kreuzes. Eines Tages wird ihr ein mit HIV infizierter Mann vorgestellt. Er weiß selbst erst seit Kurzem um seine Gefährdung; auch für die Betreuerin und den DRK -Sozialdienst bedeutet Aids damals noch Neuland. Zu einer Zeit, als manche noch befürchten, schon »beim Händeschütteln oder Anhusten angesteckt zu werden«, bemüht sich Gandert, so normal, aber auch so aufrichtig wie möglich mit ihrem Schützling umzugehen. »Wenn man nur Angst verbreitet, gibt man keine Lebenshilfe.« Bewusst organisiert sie Zerstreuungen: Einkaufsbummel, Besuch in einem Straßencafé oder Kino. Seiner Familie hat der Mann sich nie offenbart, nur wenige Freunde sind eingeweiht, und so wird Gandert bald zur Vertrauten. »Dabei werde ich schon mal in den Arm genommen und gedrückt, was mir neuen Elan gibt. Es ist nicht so, daß ich nur gebe. Ich bekomme

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