Im Zeichen der Menschlichkeit
ihr gesichertes soziales Umfeld behilflich zu sein.« Die Emissäre besuchen eines der Lager und verhandeln mit den ungarischen Kollegen. Immer wieder dringen sie darauf, Namenslisten der Flüchtlinge zu erhalten. Das Ungarische Rote Kreuz macht in der ganzen Affäre eine tadellose Figur. Listen? Welche Listen? Tatsächlich haben sich viele Flüchtlinge wohlweislich nicht registrieren lassen, um den DDR -Behörden keine Handhabe für Schikanen zu bieten.
Das Ungarische Rote Kreuz erklärt es seinerseits für wünschenswert, dass die Grenze dauerhaft geöffnet bleibt. Ähnlich spricht sich auch die Liga der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften aus, was die Dresdner Emissäre prompt als »Unterstützung negativer Kräfte« ansehen. Sie halten es umgekehrt für wünschenswert, »daß dieser Fluchtweg ausgeschlossen wird, um Schaden von der DDR abzuwenden«. Der Schaden besteht unter anderem darin, dass dem Staat Devisen in Milliardenhöhe entgehen. Bis dato wurde jeder ausreisewillige DDR -Bürger im Schnitt für 90000 Mark von der Bundesrepublik freigekauft. Wären die 40000 Menschen, die im Sommer und Herbst 1989 in den Westen fliehen wollten, tatsächlich zurückgekehrt, hätte sich ein gutes Geschäft mit ihnen machen lassen. Doch das Ungarische Rote Kreuz lehnt es unter Hinweis auf seine Neutralität ab, entsprechend auf sie einzuwirken. Am 11. September erlaubt die ungarische Regierung die Ausreise, und von Mitternacht an rollen Karawanen von Kleinwagen hinüber ins Burgenland. Insgesamt gelangen damals rund 20000 DDR -Bürger über Ungarn in den Westen.
Parallel sammeln sich Flüchtlinge aus der DDR in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin sowie in deren Botschaft in Warschau. Ende August wird auch die Botschaft in Prag wegen Überfüllung geschlossen. Doch immer mehr Menschen drängen in den Garten des glanzvollen Barockpalais, überklettern in Scharen den Zaun oder schlüpfen durchs Tor. Manche haben sich monatelang auf eine Flucht vorbereitet, die meisten handeln kurz entschlossen, in der bangen Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang. Für beide deutsche Staaten wie auch für die Tschechoslowakei eine unbequeme, schwer kontrollierbare Situation. Und für die Botschaftsmitarbeiter ein logistischer Alptraum. Zwar sind sie es gewohnt, einige Hundert Gäste auf rauschenden Empfängen zu bewirten. Aber die kampieren anschließend nicht alle im Garten.
Tausende von DDR-Bürgern flüchten sich im September 1989 in die bundesdeutsche Botschaft in Prag, um ihre Ausreise in den Westen zu erreichen.
© W. Schröder / DRK
Deutsche Rotkreuzhelfer haben bereits Stockbetten und Großzelte aufgebaut; die Bundeswehr schickt tonnenweise Verpflegung. Nur: Wer soll kochen? Der Kreisverband Euskirchen entsendet seine schnelle Eingreiftruppe. Auch wenn die beiden Lastwagen und der Kleintransporter mehr als nur fünf Brote und zwei Fische mit sich führen, sollen Angelika Schmitz und ihre Kollegen ein beinahe biblisches Wunder vollbringen. Besser als jeder pathetische Fernsehbericht zeichnen ihre Tagebucheinträge die Fieberkurve der Ereignisse nach:
19. September, 12 Uhr: Anruf, ob einsatzbereit als Köchin nach Prag – 13 Uhr: Zusage – 16 Uhr: Paßbilder machen lassen – 17 Uhr: einsatzbereit.
22. September, 8 Uhr: Erste warme Mahlzeit aus dem Feldkochherd, bisher Selbstversorgung der Betroffenen. 14 Uhr: Kasseler + Püree + Sauerkraut + Joghurt für ca. 650 Personen. Im Garten Stimmung wie auf einem Campingplatz.
23. September, 12 Uhr: Serbische Bohnensuppe + Mettwurst + Joghurt für ca. 700 Personen. Da keine Kühlung vorhanden ist, stoßen wir den Joghurt möglichst schnell ab. Stündlich Neuankömmlinge.
24. September, 12 Uhr: Grüne Bohnensuppe + Kasseler gewürfelt + 2 Joghurt für ca. 800 Personen. 13 Uhr für 100 Personen nachgekocht. Sprüche: Habt ihr BiFi? Habt ihr Fanta Mango?
25. September, 12 Uhr: Gulasch + Püree + 2 Joghurt, ca. 1200 Essen ausgegeben. Die Ordnung löst sich langsam auf, die Selbstversorgung morgens und abends bricht zusammen.
26. September: Frühstück für uns fällt aus. Keine Zeit! 13 Uhr: Erbsensuppe + Knackwurst + 2 Joghurt, ca. 1300 Essen. Wir sind zum Schlafen in den Aufenthaltsraum der Putzfrauen umgezogen. Hoffentlich kommt morgen die zweite Küche! Leere Konservendosen finden reißenden Absatz als Tellerersatz, Joghurtbecher als Tassenersatz.
27. September: Frühstück für uns fällt wieder aus. 12 Uhr: Pichelsteiner + Schweinefleisch + 1 Joghurt
Weitere Kostenlose Bücher