Im Zeichen der Menschlichkeit
Millionen Mitglieder sein uneingeschränktes Vertrauen zur Partei.« So viel Bevormundung ist dann aber selbst altgedienten Genossen zu viel. Ein »runder Tisch des Roten Kreuzes« soll organisatorische Reformen auf den Weg bringen. Auf allen Ebenen wird leidenschaftlich diskutiert. Die Dokumente jener Wochen zeugen von starker Erregung und widerstreitenden Empfindungen zwischen Hoffnung und Resignation. Enttäuschte Mitglieder kündigen die Gefolgschaft, Reformer bringen sich in Position, unterdrückte Mitarbeiter verschaffen sich Luft: »Angst war es, die uns lähmte, hinter ihr stauten sich Mißtrauen, Wut, Selbstverleugnung.« Das Vertrauen in die Führung schwindet zusehends: »Sie zeigen sich nicht in der Lage, sich mit dem ehrlichen humanistischen Gedankengut Zehntausender freiwilliger Mitglieder zu identifizieren.« Auch die Geheimpolizei mischt weiter mit. So erstattet ein langjähriger Spitzel am 31. Oktober Bericht über das »Vorhaben, im DRK der DDR eine Wende herbeizuführen«. Nachdem er sich »mit den Spitzen der Opposition« abgesprochen hat, rät er seinen Auftraggebern, »sich auf den Zug vorn draufzusetzen«. Er persönlich erachte »eine Wende für unbedingt notwendig«.
Dann öffnen sich, zur Verblüffung der ganzen Welt, die ersten Schleusen in der Berliner Mauer. Menschenmassen fluten hin und fluten her, und für ein paar kostbare Tage gerät die ganze bisherige Weltordnung aus den Fugen. Auch entlang der innerdeutschen Grenze werden nun täglich neue Übergänge geöffnet. Daraufhin erlebt das DRK der DDR Mitte November einen seiner größten Einsätze. Das Präsidium und die Nachrichtenagentur ADN kündigen über zehntausend rückkehrwillige Ostdeutsche an, die im Westen unter einem »akuten sozialen Notstand« litten. In Schleiz, in Probstzella, in Marienborn – überall entlang der 1400 Kilometer langen Grenze werden Auffanglager vorbereitet. Hunderte von Rotkreuzhelfern richten Großraumzelte, Feldküchen und Waschräume ein. Krankenhäuser werden in Alarmbereitschaft versetzt, eine Armada von Bussen steht parat, der Hilfszug rückt aus, um als mobile Unfallstation zu dienen. Bereitschaftshelfer bringen Windeln und Spielsachen in die Kasernen, die als Notquartiere dienen sollen. Ein Sprecher des Präsidiums versichert, die Wiedereingliederung werde »so unbürokratisch wie möglich erfolgen«. Doch niemand nimmt das Angebot in Anspruch. Ein Fehlalarm im Tohuwabohu der unmittelbaren Wendezeit? Eine Fata Morgana, die die vorausgehenden Hilfsaktionen der Westseite spiegelverkehrt abbilden soll? Oder eine gelungene Agitation der alten Garde?
Der Bahnhofsdienst, der in der DDR praktisch durchweg vom Roten Kreuz betrieben wird, meldet in diesen Wochen dagegen Hochbetrieb. Das ganze Land scheint unterwegs, alle wollen den Westen besichtigen, Verwandte besuchen und das begehrte Begrüßungsgeld abholen. Eine der größten Stationen befindet sich in der Haupthalle des Bahnhofs Berlin-Lichtenberg. Für die Nacht zum 12. November 1989 verzeichnet das Dienstbuch dort 306-mal soziale Hilfe und 71-mal medizinische Hilfe. Sechzig Mütter mit 82 Kindern werden betreut, dazu 26 Rollstuhlfahrer. Die Zahl der Patienten mit Schwächeanfällen übersteigt die der bereitstehenden Liegen. Auch die nächsten Wochen über herrscht für den Bahnhofsdienst landesweit Ausnahmezustand, bis der Ansturm ganz allmählich abflaut. Zögernd gewöhnen West und Ost sich aneinander. Mit jedem Besuch und jeder Reise wächst das Wissen über die andere, unbekannte Seite ein kleines Stück.
Der Präsident des DRK, Prinz zu Sayn-Wittgenstein (mit Abzeichen), übergibt im Februar 1990 medizinisches Material an das Bezirkskrankenhaus Potsdam.
© S. Spiegl /DRK
Für die beiden Rotkreuzgesellschaften beginnt nun die aufregende Phase der Wiederannäherung. Wie in Erich Kästners Roman Das doppelte Lottchen begegnen sich zwei Geschwister, die einst gewaltsam auseinandergerissen wurden, nach vierzig Jahren wieder. Und stellen verdutzt fest, wie ähnlich sie einander sind. Sie haben die gleichen Aufgaben übernommen und zeigen den gleichen Habitus; Uniformen und Abzeichen entsprechen sich. Die gemeinsamen Wurzeln reichen tiefer, als es den Beteiligten bewusst war. Immer wieder heißt es im Rückblick, beide Seiten hätten von Anfang an die gleiche Sprache gesprochen. »Die Einigung geschah nicht vom hohen Ross herab, das war ein Erfahrungsaustausch auf Augenhöhe«, erinnert sich Horst Zerna, damals DRK -Bezirkssekretär in
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