Im Zeichen der Menschlichkeit
Zivilisten erschien ihnen als ein Akt der Barbarei. Noch waren letzte Reflexe ritterlichen Denkens aktiv, noch war der »totale Krieg« des 20. Jahrhunderts unvorstellbar.
Die Schanzen sind heute ein beliebtes Ausflugsziel. Während das übrige Jütland flach und weit ist, zeigt es hier Relief. Die ganze Anlage hat etwas Archaisches, schon Kelten und Germanen schichteten solche Schutzwälle auf. Dünen der Defensive, schwingen sie sich über den schimmernden Buchten der Flensburger Förde auf. Wo damals die preußischen Batterien standen, liegt heute ein Campingplatz. Ein vielstimmiges Vogelkonzert empfängt den Gast, ein Hase nimmt Reißaus, und über einem sumpfigen Graben rüttelt ein Sperber. Die Kinder von Sonderburg haben das Areal längst als Abenteuerspielplatz für sich entdeckt. Das ganze Gelände ist zum geschichtlichen Erlebnispark umgestaltet worden; die keilförmige Architektur des Museums setzt die trutzige Geometrie der Schanzen fort.
Ähnlich wie in San Martino stellen Komparsen alljährlich zum Jahrestag die Schlacht nach. Die Stiefel gewichst, den Hahn gefettet, ziehen sie wie lebende Zinnsoldaten ins Manöver. Einen Tag lang verwandeln sie sich in grimmige Feldwebel oder stoisches Fußvolk. Der Wundarzt ist zur Stelle und die Marketenderin zu vielem bereit. »Aus dieser Niederlage erwuchs das moderne Dänemark«, erklärt ein schnauzbärtiger Füsilier. »Deshalb mache ich hier mit. Auch wenn wir jedes Mal verlieren …« Drastisch erklärt er den Besuchern die Wirkung des dreischneidigen Bajonetts, dessen Wunden kaum je verheilen. Schon beim ersten krachenden Probeschuss zucken sie zusammen. »Ist doch nur Schießpulver«, feixt er. »Ihr seid nichts mehr gewohnt.«
Der vor einigen Jahren verstorbene dänische Kriegsreporter Jan Stage hat immer wieder betont, dass jeder Krieg ein Lehrstück über den Zustand der Welt sei. Wer heute durch Dänemark reist, durch eine vermeintliche Idylle mit Legoland, Leuchttürmen und Waffelbuden, kann diesen fernen Krieg nur unbegreiflich finden. Deutsche Gäste bekräftigen denn auch die harmonische Nachbarschaft. Auf dänischer Seite sind dagegen durchaus Empfindlichkeiten wahrzunehmen, die im Trauma von 1864 ihren Ursprung haben, wenngleich die Wunden der Besatzung während des Zweiten Weltkriegs frischer und tiefer sind.
Seit 2001 nehmen auch deutsche Soldaten alljährlich an der Gedenkfeier am 18. April teil. In Uniform, doch ohne Waffen. »Die Preußen kommen wieder!«, verkündete Dänemarks größte Zeitung prompt. Eine Abordnung aus Ahlen im Münsterland bemüht sich um Aussöhnung mit dem ehemaligen Kriegsgegner; fast zwölftausend Westfalen waren damals als preußische Soldaten in Dänemark einmarschiert. Die Zeremonie findet am Ehrenhain statt. Eine Kompanie des dänischen Heeres nimmt vor den schmiedeeisernen Kreuzen der Massengräber Aufstellung. Zaungäste aus halb Dänemark säumen die Straße. Neben den Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr ist auch der deutsche Botschafter gekommen. Mit Festansprachen, Kranzniederlegung und traurigem Trompetenschall erinnern sie gemeinsam an die mörderische Schlacht. Das Musikkorps voran, setzt der ganze Zug sich schließlich in Bewegung. Im Gleichschritt geht es die Chaussee hinab und weiter durch Sonderburg. Unwillkürlich verfallen auch die mitlaufenden Schaulustigen in den beschwingten Trott der Marschmusik. Sie bewirkt eine Art martialischer Hypnose: Herzschlag und Bewegung werden synchronisiert; man kommt schneller vorwärts und muss weniger denken. Über Jahrhunderte hat das Militär Trancetechniken entwickelt, auf deren betäubende Wirkung jeder Techno-Club nur neidisch sein kann. Männer in einen solchen Zustand zu bringen erleichtert es, ihnen Dinge abzuverlangen, die sie als Einzelne, als Zivilisten, weder tun würden noch tun dürften.
Stramm zieht der Pulk vorbei an den Gräbern, den Schanzen, der symbolträchtigen Mühle. Vorbei auch an einem großen grauen Findling, auf dem eine Nachbildung jener Armbinde mit rotem Kreuz prangt, die Gustave Moynier mit seiner schwungvollen Unterschrift beglaubigte. Es ist der Gedenkstein für Louis Appia und Charles van de Velde, deren Mission es war, den Krieg menschlicher zu machen.
Das Wunder von Genf
Durch Schaden klug geworden, gründen die Dänen noch im Mai 1864 eine nationale Rotkreuzgesellschaft. Es ist die fünfte in Europa. Doch so erfreulich es ist, dass die Genfer Initiative immer mehr Resonanz findet – ohne Frankreich als wichtigster
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