Im Zeichen der Menschlichkeit
herum. Was für eine Nacht!« Nennt man in Dänemark heute die Stichworte Düppel und Rotes Kreuz, so wird man häufig Hohngelächter ernten. Denn diese eine Begebenheit kennt hier jeder: Im Lazarett von Sonderburg wird in einem fort operiert, amputiert und auch gestorben. Der Mann vom Roten Kreuz kann das geballte Elend nicht mit ansehen und fällt in Ohnmacht. Entnervt ruft der Oberstabsarzt aus: »Schafft mir diesen Zivilisten vom Hals!« Der zartbesaitete Gutmensch, der den Realitäten des Krieges nicht gewachsen ist – das mag im ersten Moment als Pointe taugen. Doch was van de Velde hier zu Gesicht bekommt, könnten wohl die wenigsten unberührt ertragen. Auch er erfährt am eigenen Leibe, was es heißt, im Kampfgebiet zu leben. »Ich sympathisiere mit diesen Menschen und höre den Erzählungen über ihre Liebsten zu, die Tag und Nacht dem Kugelhagel ausgesetzt sind.« Er beschwört das dänische Oberkommando, ihn als Unterhändler ins gegnerische Lager zu schicken, um Listen der Gefangenen und Verwundeten zu erstellen. Van de Velde weiß, dass man ihm im preußischen Hauptquartier Gehör schenken würde, dass sich Louis Appia keine drei Kilometer entfernt ebenfalls um Erleichterungen bemüht, und dass Helfer des neuen Central-Comités bereitstünden. Vergeblich – die argwöhnischen Generäle lassen ihn nicht ziehen.
Preußisches Feldlazarett bei Düppel während des Deutsch-Dänischen Krieges auf einer zeitgenössischen Illustration.
© DRK
Insgesamt identifiziert sich van de Velde stärker mit den Zivilisten, Appia stärker mit den Militärs. Was auch daran liegen mag, dass er auf preußischer Seite mehr Anerkennung findet. »Immer nimmt man mich ernst«, berichtet er nach Genf. »Man führt Krieg, man will, daß der Krieg das sei, was er unglücklicherweise sein muß, aber man will auch, daß die Barmherzigkeit herrsche, mäßige, sänftige.« Diese preußische Doppelstrategie wird bis in den Ersten Weltkrieg tonangebend sein.
Die Binde stets am Arm, inspiziert Louis Appia Verbandsplätze und tauscht sich mit Chirurgen aus. Was brauchen Helfer an der Front? Wie transportiert man das Eis, um Entzündungen zu kühlen? Wie beweglich kann, wie solide muss eine Baracke sein? Und wie gelangt der Delegierte von einem Frontabschnitt zum nächsten? Als er deswegen beim Kommandanten in Gravenstein vorspricht, kommt dieser ihm mit Blick auf die Armbinde zuvor: »Ihr Abzeichen genügt mir als Empfehlung. Sie sind hier zum Wohl der Allgemeinheit. Suchen Sie sich einen Wagen aus.«
In Flensburg teilt sich das Central-Comité sein Vorratslager mit anderen Hilfsorganisationen, hält es aber getrennt vom Depot der Armee. Aus ganz Deutschland gehen unzählige Sachspenden ein. Auch der Badische Frauenverein schickt Hilfsgüter, und das Stuttgarter Komitee fragt an, was die preußischen Kollegen benötigen. Zunächst vor allem Lazarettbedarf wie Binden und Kompressen, Laken und Schwämme, Schienen und Spritzen. Parallel treffen Mäntel, Hemden und Schuhe ein, Fäustlinge und Filzsohlen, jeweils zu Tausenden. Und tonnenweise »Viktualien«: Schinken, Erbsen, Fleischextrakt, Zucker, Tabak, Bier.
Hier lernt Appia auch die Pionierarbeit der Johanniter- und Malteserritter sowie der Kaiserswerther Diakonissen kennen, bei denen schon Florence Nightingale den Pflegeberuf erlernt hat. Außer ihm selbst und den preußischen Abgesandten tragen zum Beispiel auch die sechzehn Brüder des Rauhen Hauses, einer evangelischen Sozialstiftung aus Hamburg, das Rotkreuzemblem. Der Siegeszug des Zeichens nimmt seinen Lauf. Was Appia auch daran erkennt, dass der Chef des Generalstabs ihm mitteilt, er werde »für das Sanitätscorps der Armee die allgemeine Verwendung Ihres Armbands beantragen«. Beim Oberkommando geht er mittlerweile ein und aus. Er trifft den Kronprinzen und diniert mit dem achtzigjährigen Generalfeldmarschall von Wrangel, einer lebenden Legende. Der begrüßt ihn jovial: »Und? Was spricht man in Genf?«
Bei aller Unterschiedlichkeit verkörpern Appia wie van de Velde den Prototyp des engagierten Delegierten an der Front. Über 150 Jahre hinweg hat das Rote Kreuz immer wieder solch bemerkenswerte Persönlichkeiten hervorgebracht: vielseitig, welterfahren, fähig und gebildet. Oft machtlos, in schweren Stunden vielleicht auch mutlos, aber nie nachlassend in ihrem Bemühen, »den Krieg menschlicher zu machen«. Allein die Anwesenheit solcher moralischer Instanzen kann eine erzieherische Wirkung ausüben. Sie kann aber
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