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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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versteht zu leben: Austern Ostende, Hühnersuppe nach Königin-Art, Trüffelkroketten, böhmischer Goldfasan, Rinderfilet à la Richelieu, glasierter Punsch und Mokka-Biskuit. Die Genfer Musikgesellschaft stimmt den Freiheits-Chor aus Wilhelm Tell an, auch eine eigens komponierte Kantate kommt zur Aufführung. Eine sommerliche Seepromenade, eine Segelregatta und eine Dampferfahrt sollen die Delegierten in Stimmung bringen.

    »Der verwundete Feind ist kein Feind mehr«: Am 22. August 1864 unterzeichnen die Delegierten die zehn Punkte umfassende Genfer Konvention.
    © DRK
    Am 22. August besiegeln sie die Konvention. Sie besteht, auf schier alttestamentarische Art, aus zehn Punkten, wie sie denn auch in sieben Sitzungen erschaffen worden ist. Ihre Sprache ist klar und wohlgesetzt, wie alle Verlautbarungen des Komitees aus jener Zeit; weit entfernt vom Funktionärskauderwelsch unserer Tage. Ernst Julius Gurlt fasst ihren Kern wenig später so zusammen: »Der verwundete Feind ist kein Feind mehr, er steht unter dem Schutze des Völkerrechts, ebenso wie jeder, der ihm beizustehen berufen ist; die Feldlazarette sind unverletzliche, heilige Asyle.« Zwölf Staaten unterzeichnen den Vertrag an Ort und Stelle, weitere treten kurz darauf bei. Am Ende scharen sich die Delegierten um den Präsidenten und berühren ihn am Arm. Eine fast magische Regung, bewegt von der eigenen Courage.
    Nur zwei Jahre nach Erscheinen der Erinnerung an Solferino ist die darin angedachte Idee Wirklichkeit geworden. Ein gemeinnütziger Verein hat die europäischen Mächte an einen Tisch gerufen; fünf Mäuse haben eine Herde Elefanten eingeladen. Und fast alle sind gekommen!
    Auch wenn die Regierungsvertreter bei den Verhandlungen durchaus rational und egoistisch agieren, vermeint man selbst bei ihnen bisweilen so etwas wie Gläubigkeit zu verspüren. Fast möchte man von einem Mysterium des Roten Kreuzes sprechen. Die beste Umschreibung stammt denn auch von einem Theologen, von Rudolf Ehlers, dem Mitbegründer der Frankfurter Schwesternschaft: »Es pflegt bei Neuschöpfungen immer so zu sein … Sie sind gleichsam nur Organe einer Idee, welche mächtiger ist als sie selbst.«
    In den folgenden Jahren gehen bei Moynier mehrfach geharnischte Protestschreiben ein, in denen Ärzte das Copyright auf die Idee freiwilliger Sanitätsdienste für sich reklamieren. Das Komitee bedauert, keine Kenntnis davon gehabt zu haben. Diese Wissenslücke veranlasst Ernst Julius Gurlt, die Geschichte der militärischen Krankenpflege nachzuzeichnen. Sie gerät ihm zu einem enzyklopädischen Werk von 850 Seiten, ein Beispiel für die staunenswerte Gelehrsamkeit des 19. Jahrhunderts. In der Rückschau auf die Kriege der letzten dreihundert Jahre listet er fast ebenso viele entsprechende Verträge auf. Die »Neutralität« der Lazarette ist de facto häufig praktiziert worden, auch wenn das Wort nicht verwendet wurde. Die Abkommen waren fast alle bilateral und galten nur für die Zeit des jeweiligen Konflikts. 1864 aber wissen Europas Regierungen, dass im Ernstfall jeder gegen jeden kämpfen wird.

Krankensaal mit Kronleuchter: Während des Mainfeldzugs im Deutschen Krieg 1866 wird die Schrannenhalle in Würzburg zum Lazarett umfunktioniert.
    © Edelmann / DRK

KAPITEL 3 »Rotes Kreuz auf weißem Grund«
    Eine Idee macht Karriere
    Ja, Frau Gräfin, das ist was. Wenn ein Bataillon ran muß,
was will ich da machen? Ich muß mit. Und baff, da lieg ich.
Und nu bin ich ein Held. Aber eigentlich bin ich keiner.
Es ist alles bloß »Muß«, und solche Mußhelden gibt es viele.
Das is, was ich die großen Kriege nenne.
    THEODOR FONTANE, DER STECHLIN
    Im Frühjahr 1866 ersucht das preußische Central-Comité Gustave Moynier, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um »zum Beispiel Österreich« zum Beitritt zur Konvention zu bewegen. »Wir könnten leicht in die Lage kommen, die großartigen Ideen des internationalen Vereins in Ausführung zu bringen.« Die Beachtung der Konvention läge im beiderseitigen Interesse. Hinter diesem Vorstoß verbirgt sich nichts Geringeres als die Ankündigung eines Krieges, verpackt in die geschmeidige Rhetorik diplomatischer Korrespondenz.
    Parallel dazu gründen sich Provinzialvereine und Dutzende von Kreisvereinen, deren Formierung zugleich von oben gewünscht wie von unten betrieben wird, als eine Art staatstragender Bürgerinitiative. Mit der Zeitschrift Kriegerheil will das Central-Comité, wie die erste Ausgabe vom Mai mitteilt, »auch im Frieden das

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