Im Zeichen der Menschlichkeit
der, welcher der Hülfe bedarf, nicht weiß, wo er sie findet, und der, der Hülfe bringt, nicht weiß, wo sie am nöthigsten ist«.
Am Nachmittag des 27. Juni 1866 erhält Graf Stolberg, der Verbindungsmann zwischen Militärführung und freiwilliger Krankenpflege, Mitteilung, dass im thüringischen Langensalza 1500 Verwundete ohne ausreichende Versorgung wären. Hannoveraner und Preußen hatten sich dort eine Schlacht geliefert. Bis Mitternacht werden eilends drei Waggons mit Hilfsgütern bestückt. Darunter 1300 Binden, 500 Hemden, 55 Schlummerrollen, ein Schock (fünf Dutzend) Pantoffeln und 130 Matratzen. Mit Ärzten und Pflegern macht sich der Zug auf den Weg. Von Gotha aus geht es im Pferdeomnibus weiter, die Fracht wird auf Fuhrwerke verladen. Nur zwanzig Stunden nach Eingang der Nachricht kommen die Helfer in Langensalza an.
Schulen, Gasthäuser, Tanzböden und Kornspeicher dienen als Notlazarette. Wer Glück hat, kommt in einem Schloss unter; im böhmischen Hrádek (Grottau) werden die Verwundeten in den Gemächern und im Rittersaal bestens versorgt. In Breslau nehmen die Barmherzigen Brüder, die Elisabethinen, das Städtische Hospital und die Israelitische Kranken-Verpflegungsanstalt Verwundete auf. In Berlin stellt allein die Charité 430 Betten. Noch gibt es weder Rotkreuzschwestern noch Rotkreuzkliniken, so dass Helferinnen wie Elisabeth Lutze sich in den Häusern anderer Träger nützlich machen. Weil sie »immer schon ganz gut Blut sehen konnte«, geht Lutze den Ärzten beim Operieren zur Hand. Außerdem besucht sie zahlreiche Privathaushalte, deren ganzer Stolz die Pflege verwundeter Soldaten ist.
An die Breslauer Studentenschaft ergeht Anfang Juli ein Aufruf zum Samariterdienst. Wenige Tage später brechen hundert Freiwillige aller Fakultäten zu den nahen Kriegsschauplätzen auf. Sie tragen ebenso die Armbinde mit dem Roten Kreuz wie die gut sechzig Feldgeistlichen, zu denen noch Dutzende Hilfspfarrer kommen. Als Gegenleistung für ihre Dienste gewährt ihnen die Armee freie Beförderung, ein Reitpferd, einen Soldaten als Bedienten, freie Ration und freies Quartier.
Der Hilfsverein in Oldenburg schickt nicht nur zweihundert Zentner Lazarettmaterial und Vorräte, sondern richtet auch ein Büro ein, bei dem sich jeder melden kann, »der über einen vermißten Krieger Auskunft wünscht. Zugleich ist die Einrichtung getroffen worden, daß jeder der hier ankommenden Verwundeten Auskunft darüber ertheilt, wen er von seinen Kameraden todt gesehen.« Das Büro verschickt zweitausend Benachrichtigungen. Es sind die Anfänge des Suchdienstes im Roten Kreuz.
Auch in der Donaumonarchie bilden sich patriotische Vereine und Damenkomitees, doch mit den geballten Bemühungen der Preußen ist dies nicht zu vergleichen. Als sich Österreicher und Sachsen bei Königgrätz schließlich geschlagen geben, zieht sich das medizinische Personal – den Vorschriften entsprechend – mit den Truppen zurück und lässt die Verwundeten, wie schon in Solferino, im Stich. Erst fünf Tage nach der Schlacht wird in einem Waldstück ein Verbandsplatz mit Hunderten von Verwundeten entdeckt. Zwanzig davon sind noch am Leben, sterben jedoch, kurz nachdem sie gefunden wurden. Hätten sie unter dem Schutz des Roten Kreuzes gestanden, viele hätten überlebt. Doch der Kriegsminister lehnt die Konvention ab, und die Militärs fürchten Spionage durch Zivilpersonen. Nichtsdestotrotz macht das preußische Beispiel Schule. Bayern tritt der Konvention noch während des Krieges bei, Österreich folgt nach der Niederlage von Königgrätz. In Italien, das sich mit Preußen verbündet hat, werden nach deutschem Vorbild Sanitätsgeschwader und regionale Komitees gegründet. Louis Appia sorgt für politische Verwicklungen, als er Giuseppe Garibaldis Freischärler begleitet: Darf das Rote Kreuz auch dann aktiv werden, wenn die Kämpfer keiner regulären Streitmacht angehören? Sondern einer Befreiungsbewegung oder einer Fraktion in einem Bürgerkrieg? Diese Frage wird das Internationale Komitee über hundert Jahre hinweg beschäftigen. Erst 1977 wird ein Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention auch irregulären Streitkräften unter bestimmten Voraussetzungen einen Schutzstatus zusprechen.
Ende Juli unterzeichnen Preußen und Österreich den Vorfrieden von Nikolsburg. Damit ist auch der Einsatz der Helfer zu Ende. Bevor das Berliner Hauptdepot schließt, veranstaltet es noch eine große Lotterie zugunsten des Vereins. Auf je hundert Lose kommen
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