Im Zeichen der Menschlichkeit
immerhin fünf Treffer, alles Spenden, vom Klavier bis zur Kuchenschaufel und vom Schimmelhengst bis zum Bücherpaket. Vom Balkon aus verfolgen die Helfer anschließend die Siegesparade. Eine der Zuschauerinnen ist Elisabeth Lutze. »Als König Wilhelm durch das Brandenburger Tor einzog und an unserem Haus vorbeikam, an dem die Fahne mit dem roten Kreuz hing, hielt er an und grüßte mit dem Degen zu uns hinauf. Und wir warfen Kränze und Blumen herab.« Fünfzig Jahre später, mit Mitte siebzig, wird sie als Rotkreuzhelferin im Ersten Weltkrieg noch Nachtwachen auf Bahnhofsstationen übernehmen. Wie eine Klammer rahmen Aufstieg und Fall des späteren Kaiserreichs ihren Lebensweg ein. Aus dem Geist des Militarismus geboren, wird es durch ebendiesen Geist untergehen.
In der Parade zieht zwischen zwei rasselnden Regimentern auch ein Pastor mit, die Rotkreuzbinde am Arm. Aufgrund einer Verletzung muss er von zwei Sanitätern gestützt werden. Von allen Szenen prägt diese sich den Schaulustigen besonders ein. Der Pastor ist seit Menschengedenken der erste Zivilist in einer preußischen Parade – und der erste Verwundete. Auch Henry Dunant ist zur Siegesfeier geladen. Beim Festbankett im Schloss scharen sich alle um ihn. »Es herrschte ein wahrer Dunant-Kult«, befindet Martin Gumpert, einer seiner Biographen. »Es schien, als wäre der Krieg gegen Österreich eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu Ehren der Konvention gewesen.« Zur Soiree zwei Tage später streift sich die Königin demonstrativ die Rotkreuzarmbinde über und führt Dunant in ihre Privatgemächer. »Wenn ein Krieg mit Frankreich ausbräche«, vertraut sie ihm an, »so würde man den französischen Verwundeten die gleiche Teilnahme entgegenbringen. Sie dürfen dessen sicher sein.« Hätte Dunant mehr Gespür für die Bedeutsamkeit des politischen Konjunktivs gehabt, er hätte in diesem Augenblick gewusst, dass Europa ein weiterer großer Krieg bevorstand.
»Aber sollten die Hilfsvereine nicht auch in Friedenszeiten wirken?« Köngin Augustas Frage ist rhetorischer Natur, denn ihre Entscheidung ist bereits gefallen. Wenige Wochen später ruft sie den Vaterländischen Frauenverein ins Leben. Unter dem Schirm des Roten Kreuzes soll er »durch augenblickliche Hülfsleistung bei Landeskalamitäten wie Krieg, Feuersbrünsten, Überschwemmungen und Seuchen die Noth erleichtern«. In vielen Städten Preußens bestehen bereits derartige Frauenvereine. Einige gehen noch auf die Befreiungskriege zurück, andere haben sich nach den Aufständen von 1848 in konservativen Kreisen gebildet, wieder andere erst während des Krieges gegen Österreich. Sie alle sollen dem neuen Dachverband als Zweigvereine beitreten. Andere deutsche Staaten gründen ähnliche Frauenvereine.
Die Liste der Gründungsmitglieder in Preußen liest sich wie ein Who᾽s Who der besseren Gesellschaft. Die Berliner kennen ihre Namen bis heute aus dem Stadtplan: Frau Kommerzienrätin Borsig, Frau Geheime Kommerzienrätin Mendelssohn, Frau Generalin von Rieben (eine geborene von Bülow), Frau Minister von Roon, Frau Stadtsyndikus Duncker. Als einfaches Mitglied mit einem Monatsbeitrag von fünf Silbergroschen ist auch Elisabeth Lutze von Anfang an dabei. Der Verein soll als einigendes Band für alle Schichten der Monarchie dienen. Analog zum Militär wird das Rote Kreuz aber vor allem zu einem bevorzugten Betätigungsfeld des Adels, der dort zugleich Loyalität zum Herrscherhaus zeigen kann wie auch Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Bis heute wirken viele Mitglieder adeliger Familien in seinen Reihen. Im Kreis Königsberg ruft Pauline Gräfin Dönhoff, geborene Lehndorff, einen Zweigverein ins Leben, als in Ostpreußen nach einer Missernte eine Hungersnot ausbricht. Für den Frauenverein die erste Bewährungsprobe. Der große Basar im Königlichen Schloss zu Berlin erbringt 70000 Taler, insgesamt sammelt der Verein innerhalb weniger Monate 375000 Taler. 8000 Zentner Hilfsgüter gehen ins Notstandsgebiet: Lebensmittel, Saatgut, Brennmaterial, Bekleidung. Eine Welle der Solidarität läuft durch Preußen.
Indem sie den Wirkungsbereich des Roten Kreuzes in die Friedenszeit hinein ausdehnt, schafft Königin Augusta jene Grundstruktur, die der Organisation bis heute ihre bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit verleiht – zwischen Hilfe im Krieg und Wohltätigkeit im Frieden. Für diese Doppelstrategie hat sie ein Vorbild in der eigenen Familie: Ihre Tochter Luise, Großherzogin von Baden, hatte
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