Im Zeichen der Menschlichkeit
menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage.« Er beklagt den Irrtum der öffentlichen Meinung, »daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe. Dieser Wahn ist im Stande, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches.«
Europa im Umbruch
Da jeder Staat nur eine Rotkreuzgesellschaft haben darf, hätte die Reichsgründung zu Komplikationen führen können. Aber die 27 deutschen Landesvereine sind ihrer Zeit voraus und haben bereits fusioniert. Neben dem preußischen Riesen sind auch Zwerge im Zentralkomitee vertreten: je ein Verein Reuß älterer und Reuß jüngerer Linie, einer für Schwarzburg-Rudolstadt und einer für Schwarzburg-Sondershausen. Trotz der Vereinigung legen die einzelnen Vereine Wert auf weitgehende Selbstständigkeit. Moynier ist diese föderale Konstruktion nicht recht geheuer. Noch Jahre später beauftragt er einen Greifswalder Staatsrechtler mit einem Gutachten. Und der bestätigt ihm: Die von den Einzelstaaten geschlossenen Verträge »bleiben rechtlich bindend. Sie sind die völkerrechtliche Mitgift, mit der sie den neuen Bund dotiert haben.«
Während man in Deutschland vorankommt, nimmt der internationale Ruf der Konvention durch die Reibereien im Nachgang des Krieges Schaden. Mehrere europäische Regierungen erwägen gar einen Austritt. Den einen geht »das Genfer Recht« zu weit, den anderen nicht weit genug. Es gibt auch noch keine Möglichkeit, Verstöße zu ahnden; Moyniers Vorschlag eines Schiedsgerichts wird abgeschmettert. Doch auf lange Sicht bereitet er damit den Weg zur Haager Landkriegsordnung und zum Internationalen Strafgerichtshof.
Auch außerhalb Europas entstehen unterdessen neue Gesellschaften. Ägypten tritt bei, auch der Schah von Persien lässt sich überzeugen, und 1877 schließt sich Japan der Bewegung an. Selbst der König von Basutoland (heute Lesotho) erhält über einen französischen Missionar ein Widmungsexemplar der Erinnerung an Solferino , woraufhin er eine feierliche Volksversammlung einberuft. Nach dem Beginn des Salpeterkriegs 1879 treten Bolivien, Chile und Peru bei. Zwei Jahre später ist schließlich auch Clara Barton am Ziel: »Ein kleines, fremdes Schiff aus dem Ausland läuft in den amerikanischen Hafen ein – das Rote Kreuz.« Noch im gleichen Jahr erlebt es buchstäblich seine Feuertaufe, als bei Waldbränden in Michigan fast dreihundert Menschen sterben und Tausende in Not geraten. Der riesige Kontinent, in manchen Regionen häufig von Fluten, Dürren, Waldbränden oder Wirbelstürmen bedroht, fordert zum Kampf gegen die Naturgewalten geradezu heraus, weshalb das Rote Kreuz sich dort stärker auf zivile Aufgaben ausrichtet. Anders als die deutschen Vereine hat es auch eine durchaus emanzipatorische Stoßrichtung, die vor allem der streitbaren Miss Barton zu verdanken ist: »Die Frau sollte in Angelegenheiten des Krieges ihre Stimme erheben können, dafür oder dawider. Aber weil sie keine Rechte hat, muß sie sich dem Unrecht fügen. Und weil sie sich fügt, ist sie ein Nichts.«
Doch die rasante Entwicklung des Gesundheitswesens trägt zur Aufwertung weiblicher Arbeit bei. Aus dem karitativen Betätigungsfeld wird ein professioneller Heilberuf. Dieser Prozess ist eng an die Fortschritte der Medizin, besonders der Kriegsmedizin gekoppelt. »Wer Chirurg werden will, sollte zur Armee gehen und sie begleiten«, das hatte bereits Hippokrates geraten. Erstaunlich viele Pioniere der Heilkunst haben zeitweise oder hauptberuflich als Militärärzte gewirkt. Bernhard von Langenbeck, Theodor Billroth, Friedrich von Esmarch, Rudolf Virchow, August Bier und Robert Koch – sie alle sind im Sanitätsdienst gewesen und haben den Krieg als ein martialisches Laboratorium erlebt. Cesare Lombroso hat sich seine ersten Sporen im italienischen Befreiungskrieg verdient, Iwan Pawlow sein Handwerk an der Akademie für Militärärzte in Sankt Petersburg gelernt.
»Große Fortschritte«: Während die Verwundeten 1866, wie hier in Kissingen, noch auf Ochsenkarren transportiert worden sind …
… stellt man auf der Wiener Weltausstellung 1873 diesen »komfortablen« Krankenwagen vor.
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Richard von Volkmann, der am Feldzug gegen Frankreich teilgenommen hat, entwickelt durch den Vergleich von Kriegs- und Unfallverletzungen die Lehre von der Wundvergiftung. Nachdem schon die Entdeckung des Chloroforms die Medizin revolutioniert hat, werden nun durch
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