Im Zeichen der Menschlichkeit
gestandenes Bürgertum also, das sich in den Dienst der Sache stellt. Noch kommen mehr Männer als Frauen zum Einsatz und mehr geistliche Schwestern als weltliche.
Krankensaal in einem Lazarettzug. Diese neue Form des Verwundetentransports beginnt 1870 und erreicht im Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt.
© DRK
Auch ein junger, aufstrebender Gelehrter hat sich als freiwilliger Helfer gemeldet: Friedrich Nietzsche. Von Erlangen aus dampft er im August an die Front – allerdings in einem ungefederten Viehwaggon. Erste Station ist das Schlachtfeld von Wörth im Elsass, wo Marschall Patrice de Mac-Mahon, Dunants Gönner, kurz zuvor eine schwere Niederlage erlitten hat. Nietzsches Trupp verlädt die Gewehre und Tornister der Gefallenen, dann geht es weiter nach Metz, das von den Preußen belagert wird. Auf der Rückfahrt betreut er zwei Tage lang Schwerkranke. Infiziert durch »Pestdünste«, muss er sich am Ende in Erlangen selbst einliefern, mit Ruhr und Diphtherie. »Trotzdem bin ich froh, wenigstens etwas bei der ungeheuren Not geholfen zu haben. Ich wäre sofort noch ein zweites Mal ausgefahren.« Während ihn die schauerlichen Bilder der Schlachtfelder verfolgen, konzipiert er sein bahnbrechendes Werk über die Geburt der Tragödie . »Ich erinnere mich, in einsamer Nacht mit Verwundeten im Güterwagen liegend, mit den Gedanken in der Tragödie gewesen zu sein.« Danach leidet er noch über Monate hinweg an nervösen Zuständen, »eine Zeitlang hörte ich einen nie enden wollenden Klagelaut«.
Andere Helfer erwischt es noch schlimmer. Ebenfalls von Erlangen aus leitet Professor Jakob Herz einen Spitalzug mit 566 Kranken. Zweimal täglich macht der Mediziner Visite. Kaum zurück, schreibt er seine Erfahrungen nieder: »Je geübter das Wartpersonal ist, desto weniger braucht man Ärzte.« In der Pflege schwört er auf freiwillige Helferinnen: »Am wenigsten eignen sich bezahlte Wärterinnen, zumal die jungen.« Nachdrücklich fordert er, dass Männer mit ansteckenden Krankheiten wie Typhus, Ruhr oder Lungenentzündung nicht transportiert werden sollten. Tragischerweise erliegt er selbst wenig später einer solchen Krankheit. Mit Herz hatte ein Stück deutscher Wissenschaftsgeschichte begonnen: Er war der erste jüdische Professor in Bayern.
Nicht nur rollende, auch schwimmende Lazarette kommen im Deutsch-Französischen Krieg zum Einsatz. Von Mainz aus dampfen sechzehn Schiffe mit Verwundeten rheinabwärts, auch auf Seine und Marne fahren Hospitalschiffe. Sie bleiben alle unbehelligt. Es ist der erste Krieg, in dem beide Parteien die Genfer Konvention anerkennen, und auch der erste, in dem Rotkreuzgesellschaften neutraler Staaten Hilfe senden, darunter Belgien, Schweden, Russland, Österreich-Ungarn, Italien, Spanien und Portugal. Allein Luxemburg leistet 63 Einsätze.
Es ist Neuland für alle Beteiligten; entsprechend dynamisch verläuft die Entwicklung. So fraternisieren dreihundert irische Helfer kurzerhand mit den Franzosen und kämpfen auf deren Seite mit. Bei vielen Zeitgenossen aber trägt der Geist der Konvention bereits Früchte. Ein aufrechter Ludwigsburger etwa protestiert dagegen, dass die Preußen ein Pariser Militärhospital beschießen, »obwohl es durch seine große Kuppel von weitem erkennbar und also für Kanoniere vermeidbar ist«. Nicht an Berlin appelliert er, sondern an das Internationale Komitee in Genf, das zunehmend als moralische Instanz gesehen wird. Dazu haben vor allem Gustave Moyniers Integrität und rhetorische Überzeugungskraft beitragen. Er versteht seine Arbeit denn auch als einen »Krieg gegen den Krieg«. Als ein algerischer Soldat mutterseelenallein in einem Genfer Hospital stirbt, gibt Moynier ihm stoisch das letzte Geleit – mit der Rotkreuzbinde am Arm.
In Basel eröffnet das Komitee ein riesiges Zentraldepot, eine neutrale Ambulanz für Verwundete beider Seiten sowie eine »Internationale Agentur«, die als Auskunfts- und Verbindungsstelle zwischen Kriegsgefangenen und ihren Angehörigen dienen soll und täglich bis zu achthundert Briefe weiterleitet. Als Louis Appia sich einer badischen Ambulanz anschließt, lädt er Clara Barton ein, ihn zu begleiten. Sie hatte als Krankenschwester im amerikanischen Bürgerkrieg gewirkt, anschließend vier Jahre lang einen Vermisstensuchdienst geleitet und manche der Genfer Ideen vorweggenommen. Umso mehr bedauert man es dort, dass das Rote Kreuz in Amerika nicht Fuß zu fassen vermochte. Obwohl Charles Bowles seinerzeit maßgebend an
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