Im Zeichen der Menschlichkeit
nicht zu erwarten. Und so fächert sich das Repertoire immer weiter auf, im Zusammenspiel mit der politischen und sozialen Entwicklung des Kaiserreichs.
In den 1880er Jahren entstehen vielerorts Sanitätskolonnen, feste Abteilungen aus freiwilligen Helfern und Krankenträgern. Oft schließen sich Veteranen des Kriegerbunds dafür mit örtlichen Turn- und Schützenvereinen zusammen. Die Mitglieder müssen unbescholten sein und sich zu vaterländischer und monarchistischer Gesinnung bekennen. Sie werden durch Ärzte geschult und nach dem Vorbild der militärischen Sanitätseinheiten organisiert, mit Uniform, Rangordnung und regelmäßigen Übungen. Mal auf dem Schulhof, mal am Hafen oder am Bahnhof. Auch schmissiges Liedgut darf nicht fehlen, für das bekannte Melodien einfach mit neuen Texten unterlegt werden. Zur Tonfolge der »Wacht am Rhein« singt der Trupp dann »Du rotes Kreuz auf weißem Grund / stehst hilfsbereit zu jeder Stund’.«
Im Schnitt umfassen diese Kolonnen zwischen zwanzig und vierzig Mann. Mit zu den größten dürfte die Sanitätskolonne Stuttgart gezählt haben, bestehend aus einem Kolonnenführer, fünf Patrouillenführern, einem Hornisten und sechzig Krankenträgern. Zur Grundausstattung gehören zwei Verbandspäckchen, eine »Labeflasche« mit Trinkbecher und eine Tasche mit Schere, Bürste, Seife und Nähzeug. Dazu der bewährte Westentaschenplan, der die wichtigsten Maßnahmen bei Quetschungen, Knochenbrüchen, Erfrierungen, Scheintod und »plötzlicher Geisteskrankheit« in Erinnerung ruft.
Von Zeit zu Zeit finden öffentliche Schauübungen statt. Die anwesenden Durchlauchten, Minister, Militärinspekteure und Ehrengäste verleihen ihnen die höheren Weihen. Quer durch die Rotkreuzgeschichte dienen derartige Manifestationen immer auch der Selbstdarstellung des jeweiligen Systems. So wohnt den alle zwei Jahre stattfindenden Großübungen in Elsass-Lothringen der kaiserliche Statthalter des neuen Reichslandes bei. Von den Übungen selbst, an denen sich gut fünfhundert Mann beteiligen, wird wenig berichtet, außer dass sie, wie nicht anders zu erwarten, »einen glänzenden Verlauf« genommen hätten. Einmal beteiligt sich auch eine Gruppe französischer Sanitäter daran, »ausgezeichnet uniformiert und ausgerüstet«. Unter dem Zeichen des Roten Kreuzes sind derartige Gesten leichter möglich; das Wohl der Allgemeinheit dient hier als gemeinsamer Nenner.
Bis 1907 entstehen allein in Preußen über 800 Sanitätskolonnen, bestehend aus insgesamt 25000 Mann. Sie können als typische Repräsentanten des Kaiserreichs angesehen werden: obrigkeitstreu, ordnungsliebend, Stützen der Gesellschaft. Leiter der Kolonne ist häufig ein ehemaliger Militärarzt. Wie Dr. med. Carl Falckenberg in Gelsenkirchen. Als Medizinstudent hat er bereits am Feldzug gegen Frankreich teilgenommen. Getreu seinem Wahlspruch »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« wirkt er auch als Schul- und Armenarzt sowie als Stadtverordneter. In die Rotkreuzarbeit »gräbt er sich förmlich ein«. Von Bochum bis Paderborn unterrichtet er Interessierte in Erster Hilfe und vermittelt medizinische Grundkenntnisse. Zusätzlich betätigt er sich als Schriftführer sowohl des Rotkreuz-Zweigvereins als auch des Vaterländischen Frauenvereins in Gelsenkirchen, dem seine Frau Johanna, die Musik- und »Haushaltskünste« studiert hat, über vierzig Jahre hinweg ebenfalls angehört. Für seine Lebensleistung erhält Falckenberg den Titel eines »Geheimen Sanitätsrats« sowie mehrere Orden und Rotkreuzmedaillen. Als er 1917 stirbt, bedauert die Gelsenkirchener Lokalzeitung den Verlust eines Arztes, »der ein ganzer Mann war«. Tochter Hanny führt die Passion der Familie fort. Zur Beerdigung kann sie nicht kommen, da sie als Rotkreuzschwester an der Westfront im Einsatz ist. Die Sanitätskolonne gibt ihrem Vater das letzte Geleit.
Aus den Kolonnen heraus erwachsen auch die Anfänge des Rettungsdienstes im Roten Kreuz. Oft in Zusammenarbeit mit Krankenhäusern, Kommunen und Berufsgenossenschaften. Gerade den Veteranen in den Kolonnen traut man die entsprechende Kompetenz zu. Schließlich ist eine Bergung aus der Kampfzone nichts anderes als eine Notfallrettung unter erschwerten Bedingungen, und die Verlegung eines Verwundeten in ein Etappenlazarett kann als typische Krankenbeförderung angesehen werden. Auch Katastrophen haben diese Männer schon erlebt – im Vergleich mit einer Feldschlacht wirkt selbst ein Zugunglück noch
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