Im Zeichen der Menschlichkeit
befindet der Lokomotivführer mit bebender Stimme. Doch der Kommandant insistiert: »Wir müssen.« Sie gelangen heil hinüber, werden dann aber aus der Festung Belfort heraus unter Beschuss genommen. »Es sollten wohl Schreckschüsse sein«, wiegelt Wöllwarth ab.
Sehr viel geordneter geht es da schon in Berlin zu, wo sie die Verwundeten in einem Barackenlager auf dem Tempelhofer Feld abliefern, dem Exerziergelände der Garnison. Königin Augusta inspiziert den Lazarettzug und zeigt sich programmgemäß beeindruckt von dessen Zweckdienlichkeit.
In der Schlacht von Sedan machen die deutschen Armeen über 100000 Gefangene. Einer davon ist Napoleon III . Als daraufhin in Paris die Republik ausgerufen wird, bricht ein politisches Chaos aus. Die 83 Prozent Bonapartisten scheinen sich verflüchtigt zu haben. Statt die inneren Spannungen zurückzustellen, zerfleischt das Land sich selbst. Paris wird erst von den Preußen belagert, dann von den Truppen der Übergangsregierung, die gegen die aufständische Kommune vorgehen. Der Krieg mündet in den Bürgerkrieg. »Erstaunlich, wie man sich an dieses durch den Schlag der Kanonen gleichsam rhythmisch grundierte Leben gewöhnt«, notiert Edmond de Goncourt stoisch in sein Tagebuch. Hunger und Gewalt regieren die Stadt. Fleischstreifen von der Größe einer Visitenkarte werden verkauft, und nach und nach verschwinden Kängurus und Elefanten aus der Menagerie.
In dieser Phase läuft Henry Dunant für kurze Zeit noch einmal zu alter Form auf. Ein Hotelier bietet ihm freie Logis, in der Hoffnung, sich dadurch vor Einquartierung schützen zu können. Als handle es sich um die Residenz eines Botschafters, wehen von seinem Balkon die Schweizer Fahne und die Rotkreuzfahne. Er leiht mehreren Menschen seinen Pass und rettet ihnen damit womöglich das Leben. Unermüdlich betätigt er sich als Vermittler, besucht die Ambulanzen an den Champs-Élysées und gemahnt alle Lager an die Verpflichtungen der Konvention. Doch er bewegt sich auf gefährlichem Terrain. Die einen halten ihn für einen preußischen Spion, die anderen »für einen Anarchisten, Nihilisten, einen Anführer der Internationalen«. Beinahe hätte eine solche Verwechslung mit der kommunistischen Bewegung fatale Konsequenzen für ihn gehabt, als er verhaftet und vor ein Schnellgericht gestellt werden soll. Seither fühlt er sich noch mehr von Geheimagenten beschattet; möglicherweise lassen ihn seine Gläubiger tatsächlich durch Detektive überwachen. Es folgen unstete Jahre, mit wechselnden Wohnorten in Europa.
Napoleon III. geht nach England ins Exil. Als er dort von Dunants Misere erfährt, bittet er Leonie Kastner, eine vermögende Witwe, sich des Gestrauchelten anzunehmen. Sie finanziert während der nächsten Jahre weitgehend dessen Lebensunterhalt und bezahlt seine Kuren wegen ominöser Schwächeanfälle. Als ihm Gerüchte zu Ohren kommen, er habe sich bewusst eine reiche Witwe geangelt, bemüht er sich um Klarstellung: »Ich war nie der Geliebte dieser Dame.« Ansonsten ist von einem etwaigen Liebesleben Henry Dunants nichts bekannt, weder mit Frauen noch mit Männern. Besser dokumentiert sind die neuen Luftschlösser, die er zu dieser Zeit errichtet. Ob Internationale Bibliothek, Weltweite Allianz für Ordnung und Zivilisation, Internationale Palästina-Gesellschaft – keinem dieser Projekte ist Erfolg beschieden. Nur die Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Templergesellschaft, einer pietistischen Siedlungsbewegung, die eine Kolonie im Heiligen Land gründen will, zeitigt bescheidene Ergebnisse.
Die noch vergleichsweise offene und pluralistische Ordnung Europas, in der Dunant aufgewachsen ist, weicht zunehmend der Herrschaft der Imperien. Befeuert durch die französischen Reparationszahlungen, steigt Deutschland zur Großmacht auf. Noch in Versailles hat sich Wilhelm am 18. Januar 1871 zum Kaiser proklamieren lassen und damit die Vereinigung der vielen Einzelstaaten zum Deutschen Reich in Gang gebracht. In Berlin wird daraufhin die Siegessäule aufgestockt und das Zeughaus zur Ruhmeshalle der preußischen Armee umgebaut. Diese lässt die lange Reihe der Schlachten Revue passieren, präsentiert erbeutete Geschütze und stellt pompöse Gemälde zur Schau, auf denen Wilhelm in Walhall einzieht. Gegen diesen patriotischen Dauerrausch, der im Zuge des Sieges und der Reichsgründung einsetzt, erheben sich nur wenige Stimmen. Darunter die von Friedrich Nietzsche: »Ein großer Sieg ist eine große Gefahr. Die
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