Im Zeichen der Menschlichkeit
Internationalen Komitees zu stellen«.
Eine derart engagierte, schier unbezähmbare Hilfsbereitschaft vor allem des weiblichen Pflegepersonals flammt quer durch die Zeiten immer wieder auf. Doch zu einem so frühen Zeitpunkt darf Fräulein Irma sich getrost als Pionierin fühlen. In der Regel stellen die Frauen humanitäre Motive in den Vordergrund, während bei den männlichen Kollegen die patriotischen Töne stärker mitschwingen. In der Praxis ist beides nicht voneinander zu trennen. Irma Tatarko jedenfalls zeigt beachtliches politisches Gespür, denn drei Monate später greift Russland tatsächlich in den Balkankonflikt ein und erklärt der Türkei den Krieg.
Kreuz gegen Halbmond?
Vorausgegangen ist im Sommer 1876 der Aufstand der Serben gegen die osmanische Vorherrschaft. Doch bald müssen sie sich der türkischen Übermacht geschlagen geben, und nur die Schutzmacht Russland bewahrt sie vor Gebietsverlusten. Der im Februar 1877 geschlossene Friedensvertrag erweist sich als brüchig, denn zwei Monate später erklärt Russland seinerseits dem Osmanischen Reich den Krieg, um eine Neuordnung des Balkans zu erzwingen. Auch Serbien ruft, ebenso wie andere türkische Vasallenstaaten, noch einmal zu den Waffen. Erst ein Jahr später kehrt in der Region wieder gespannte Ruhe ein.
Um ihre Bestrebungen nach mehr Souveränität zu untermauern, haben die Serben kurz vor Beginn der militärischen Auseinandersetzungen auch eine eigene Rotkreuzgesellschaft gegründet. Bald schon berichten sie nach Genf, dass ihre Sanitäter und Ambulanzen von den Türken gezielt beschossen würden. Offenbar aus Unkenntnis des Hilfswerks und der Konvention überhaupt halten die türkischen Soldaten das Schutzzeichen für ein religiöses Symbol. Im historischen Gedächtnis der Osmanen ist noch präsent, dass die abendländischen Kreuzritter einst ein rotes Kreuz auf der rechten Schulter trugen, dem sie auch ihren Namen verdankten.
Parallel zu den serbischen Beschwerden geht bei der Schweizer Regierung als treuhänderischem Depositarstaat des Genfer Abkommens ein Schreiben der Hohen Pforte (bis 1922 lautete so die Bezeichnung für den Sitz der osmanischen Regierung) ein, dass das bisherige Zeichen »das religiöse Empfinden mohammedanischer Soldaten verletze«. Als Reaktion kehren die Türken kurzerhand ihre eigene Fahne um. Dieser »Rote Halbmond« soll fortan das Symbol ihrer Hilfsorganisation sein. Mit dem Ergebnis, dass die Gefährdung der serbischen Sanitätskräfte bestehen bleibt, dass nun aber aus Unkenntnis des türkischen Sonderweges auch deren Ambulanzen unter Beschuss geraten, weil die Serben den Halbmond als Hoheitszeichen der Regierung ansehen.
Dieses eigenmächtige Ausscheren aus einem völkerrechtlichen Vertrag sorgt für erhebliche diplomatische Verstimmung, und das Internationale Komitee wird mit den Grenzen seines Einflusses konfrontiert. Während es selbst die Konvention hoch und heilig hält, wird sie von den beteiligten Staaten je nach Bedarf interpretiert und als strategisches Instrument benutzt. Über Jahrzehnte hinweg wird die Frage der Einheitlichkeit des Emblems immer wieder diskutiert werden, zumal später auch andere islamische Länder den roten Halbmond übernehmen. Man muss sich schließlich damit arrangieren und stellt das Zeichen – allerdings erst im Jahr 1929 – auch völkerrechtlich mit dem des roten Kreuzes gleich.
Nach diesem vorerst letzten großen Konflikt gleitet Europa und mit ihm das Rote Kreuz allmählich hinein in die Belle Époque. Mit all ihren technischen Errungenschaften, ihrem ungebrochenen Glauben an den allgemeinen Fortschritt der Menschheit – und mit Jahrzehnten des Friedens.
Das Cecilienhaus des Vaterländischen Frauenvereins in Berlin-Charlottenburg ist eine der bedeutendsten Rotkreuzeinrichtungen der Kaiserzeit. Es steht noch heute.
© R. Sennecke / DRK
KAPITEL 4 »Hilfsbereit zu jeder Stund‘«
Das Rote Kreuz im Kaiserreich
Leichter wird uns der Tornister,
Singen wir ein munt’res Lied.
Lachen über den Philister,
Der nichts weiß von Reih’ und Glied.
MORGENGRUSS DER SANITÄTSKOLONNE
Nach drei Kriegen in nur sieben Jahren geht es für die deutschen Rotkreuzvereine darum, den hohen Organisationsgrad und erheblichen politischen Einfluss zu behalten – und sich gleichzeitig neue Wirkungsfelder und Einnahmequellen zu erschließen. Ein kollektiver Kraftakt wie zuletzt im Krieg gegen Frankreich, der Helfer und Geldgeber gleichermaßen mobilisiert hat, steht in Friedenszeiten
Weitere Kostenlose Bücher