Im Zeichen der Menschlichkeit
Den Durchbruch bringt 1895 ein Artikel in der populären Illustrierten Über Land und Meer , verlegt von der Deutschen Verlags-Anstalt. Dunant empfängt den Journalisten Georg Baumberger im Schlafrock. Wallender Bart, weiche Stimme, durchgeistigte Bescheidenheit – ganz wie ein Guru. »Man begreift, daß dieser Mann eine Weltmission zu erfüllen imstande war.« Die spartanischen Lebensverhältnisse stehen in krassem Kontrast zur glamourösen Vergangenheit, den einzigen Zimmerschmuck bildet die Hausordnung. Bewegt ruft Baumberger zum Engagement für einen Engagierten auf. Sein Appell zieht Kreise. Dunant erhält Orden und Ehrendoktorwürden, Zuwendungen von Rotkreuzsektionen und Stiftungen. Fridtjof Nansen gratuliert zum Geburtstag, Clara Barton und Rudolf Virchow treten für ihn ein, die Zarenwitwe beehrt ihn. Allmählich findet der verlorene Vater des Roten Kreuzes wieder Kontakt zu seiner weltweiten Familie.
1901 erhält Henry Dunant gemeinsam mit Frédéric Passy den Friedensnobelpreis. Rechts ein bislang unveröffentlichtes Porträt aus Familienbesitz.
links: © DRK; rechts: © Société Henry Dunant, Genf
Damals stiftet der schwedische Industrielle Alfred Nobel einen Preis, der in fünf Kategorien an herausragende Persönlichkeiten vergeben werden soll, »die der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben«. 1901 werden diese Auszeichnungen zum ersten Mal verliehen: Gemeinsam mit dem französischen Pazifisten Frédéric Passy erhält Henry Dunant den Friedensnobelpreis. Die Entscheidung ist nicht unumstritten. Bertha von Suttner, die sich ansonsten sehr für Dunant einsetzt, moniert, dass die Auszeichnung nicht im Sinne des Stifters sei. Das Rote Kreuz sei keine Friedensinstitution, sondern diene als »Kriegserleichterer« für Regierungen und Militärs.
Da der Laureat den weiten Weg scheut und die Öffentlichkeit dazu, fährt er nicht nach Christiania (heute Oslo). Seinen Anteil von gut 100000 Schweizer Franken stellt er wohltätigen Zwecken zur Verfügung. Als ihn hingegen ein paar Monate später der Zar einlädt, überlegt er ernsthaft, nach Sankt Petersburg zu reisen. Auf reichlich naive Art gilt seine Verehrung nach wie vor den Machthabern. Mit dieser Fixierung hat er dem Roten Kreuz ein schwieriges Erbe hinterlassen. Stellt man seiner Verklärung etwa die schonungslose Klarsicht Leo Tolstois gegenüber – »Es herrschen häufig die schlechtesten, unbedeutendsten, grausamsten, sittenlosesten und verlogensten Menschen« –, wird Dunants politische Unbedarftheit deutlich. Den wenige Jahre später erfolgenden Amoklauf der Monarchien muss er nicht mehr miterleben.
Fast möchte man angesichts des Nobelpreises von einem Happy End für Dunant sprechen. Die Tragik liegt darin, dass er sich danach erneut in seiner Isolation verschanzt. Obwohl körperlich noch rüstig, verbringt er die letzten Jahre in selbstgewählter Klausur auf seinem Zimmer. Der Menschenfreund als Misanthrop.
Kampf dem inneren Feind
Sein Werk aber wächst unaufhaltsam weiter. Gerade in Deutschland beginnt um die Jahrhundertwende ein goldenes Zeitalter des Roten Kreuzes. Immer mehr Mutterhäuser werden gegründet, immer mehr Kliniken entstehen, immer neue Sozial- und Wohlfahrtsprojekte entwickeln sich. Vordergründig mag es scheinen, als würde die Organisation sich damit der militärischen Sphäre entfremden. Doch wie im Rettungswesen lassen sich militärischer und gesellschaftlicher Nutzen oft kaum voneinander trennen. An der »Hebung der Volksgesundheit« etwa oder an der Verringerung der Kindersterblichkeit hat jede Armee ein vitales Interesse. Ebenso an der Seuchenbekämpfung, da Epidemien häufig nach Kriegen ausbrechen. So kann das Rote Kreuz sich neue Bereiche erschließen, ohne seiner Bestimmung untreu zu werden. Wobei die Gewichtung ein Balanceakt bleibt. In Kriegszeiten gerät es leicht unter Zivilisten-, in Friedenszeiten unter Militaristenvorbehalt. Vielleicht ist es dieser ewige Zwiespalt, der die Institution umso mehr dazu treibt, sich in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren.
Beredten Ausdruck findet diese Ambivalenz in einem Büchlein für die Mutter , welches das Bayerische Rote Kreuz um 1904 herausbringt. Ein Ratgeber mit Mahn- und Merkworten an die Mütter und mit Rezepten für preiswerte Volksgerichte. Auf den ersten Blick verfolgt das Büchlein einen modernen Ansatz, widmet es sich doch großen Themen der Zeit wie etwa Hygiene und Gesundheitsaufklärung. Auf den zweiten Blick schlägt dann aber doch der
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