Im Zeichen der Menschlichkeit
überschaubar.
Hauptsache mobil: Dieses Lastenfahrrad aus dem preußischen Bromberg brachte seinem Konstrukteur um die Jahrhundertwende eine Auszeichnung ein.
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Auf Dauer setzen sich dann jedoch Automobile als Kranken- und Rettungsfahrzeuge durch.
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Die Nürnberger Kolonne etwa nimmt 1895 ihre Arbeit auf. Für kurze Strecken kommt eine »Handmarie« zum Einsatz, eine Art Schubkarre für Verletzte. Schon Louis Appia hatte, angeregt durch seine Erfahrungen im italienischen Krieg, solche fahrbaren Tragen konstruiert. Seither sind die verschiedensten Modelle und Patente erprobt worden, stets mit dem Ziel einer schnellen, aber möglichst erschütterungsfreien Beförderung. Bis heute verwenden Notfallhelfer fahrbare Tragen, denen die gleichen Bauprinzipien zugrunde liegen. Für längere Strecken kommen zunächst pferdebespannte Sanitätswagen zum Einsatz, in Nürnberg auch eine umgerüstete Leichenkutsche. Die Radfahrerkolonne tüftelt eine Konstruktion aus, bei der die Trage zwischen zwei Velozipeden aufgespannt werden kann. Für den Transport mehrerer Verletzter bestückt man große Fuhrwerke mit acht Holzpritschen und spannt zwei Kaltblüter vor. 1908 schafft die Kolonne dann das erste Automobil an. Viele dieser Vehikel sind bis heute im Nürnberger Rotkreuzmuseum zu bestaunen, wie sie überhaupt zum festen Bestand fast jeder Rotkreuzsammlung gehören. Als das Museum im unterfränkischen Hofheim einen Anruf erhielt, man habe auf dem Dachboden »einen komischen Kinderwagen« gefunden, wussten sie gleich, woran sie waren. Die Rolltrage, ein stattliches feldgraues Exemplar mit Leinenverdeck, war noch bis in die 1960er Jahre hinein beim Sportverein im Einsatz.
Der Eremit von Heiden
Dass Henry Dunant noch am Leben ist und dass er sogar in Deutschland wohnt, wissen damals nur wenige. Über zehn Jahre hinweg findet er in Stuttgart bei Pfarrer Wagner ein Zuhause. Diese Zeit ist nur spärlich dokumentiert; es scheinen verlorene Jahre gewesen zu sein. Er schließt sich einem Wunderheiler an und lässt sich einen Bart bis zum Knie wachsen. Immerhin erfreut er sich eines kleinen Bekanntenkreises, zu dem neben den Pastoren Hahn und Wagner auch Mitglieder der Templergesellschaft und die Familie Nick gehören. Bei seinen Spaziergängen lernt er Rudolf Müller kennen, einen jungen Lehrer, der fortan ein enger Freund und Mitarbeiter wird. Auf der Hasenbergsteige, wo Wagners Haus stand, erinnert heute ein Denkmal an den scheuen Gast. Der Bildhauer Martin Raff hat vier Marmorwürfel versetzt aufeinandergetürmt; ein fünfter steht etwas abseits. Zusammengesetzt ergäben sie ein Kreuz. Der Stein stammt aus Carrara – Castiglione lässt grüßen. Mit Dunants wichtigsten Daten versehen, verkörpert die Stele die Brüchigkeit seines Lebens, aber auch dessen Stärke und Unvergänglichkeit.
Als erst Wagner und schließlich auch dessen Frau stirbt, muss sich Dunant verändern. 1887 lässt er sich in Heiden nieder, einem idyllischen Kurort im Appenzellerland. Der Autor der Erinnerung an Solferino ist inzwischen knapp sechzig Jahre alt, ratlos, ziellos, heimatlos. Die schweren Koffer, mit denen er in der »Pension Paradies« ankommt, enthalten kaum persönliche Habe, dafür umso mehr Korrespondenz, Zeitungsartikel und Schriften. Heiden tut ihm gut, der Blick über den Bodensee lässt Kindheitserinnerungen an den Landsitz am Genfer See lebendig werden. Als seine Wirtsleute im nahen Lindenbühl ein Grandhotel eröffnen, schließt er sich ihnen an. Dort haust er in einer engen Dachkammer, die das Stübchen von Spitzwegs armem Poeten fast noch wie eine Suite erscheinen lässt. Durch eine Luke blickt er auf Wald und Hügel – der See ist nicht mehr zu sehen. Die Depressionen und Angstvorstellungen nehmen wieder zu. Zum Glück kommt er kurze Zeit später im Bezirkskrankenhaus von Heiden unter, als Dauerpensionär für drei Franken am Tag. Doktor Hermann Altherr nimmt sich seiner an. Dessen Frau stammt aus Savoyen, fast eine Landsmännin also. Noch einmal kehrt Dunants alter Unternehmungsgeist zurück, und er regt die Gründung einer Rotkreuzsektion in Heiden an. Mit den Jahren aber wird er immer wunderlicher. Verfolgungsphantasien und Vergiftungsängste peinigen ihn; man kann Altherrs Güte und Langmut nur bewundern. Was Dunant wohl dazu gesagt hätte, dass das Rote Kreuz heute selbst Pflegeheime betreibt? Dass es Schuldnerberatungen anbietet?
Allmählich spricht sich herum, dass der Begründer des Roten Kreuzes in Heiden wohnt.
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