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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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gegenüber.
    Plötzlich sah ich - wie im Traum - den gelb bemalten Sperbermenschen, der ihm kurz zuvor Pfeil und Bogen gereicht hatte, lautlos hinter ihm hervortreten. Ich sah - wie im Traum - das Blasrohr an seine Lippen fliegen. Im selben Atemzug schwenkte der Anführer herum. Er hob die Faust und schlug mit voller Wucht dem Sperbermenschen, der auf mich zielte, ins Gesicht. Wie von einem Keulenschlag getroffen, sackte der Wilde zu Boden. Der Anführer würdigte den Mann keines Blickes. Er stieg über den leblosen Körper, drehte mir mit spöttischer Herausforderung den Rücken zu. Ich betrachtete die kräftigen, stolzen Schultern und stellte mir vor, wie es sein würde, wenn ein Pfeil sie durchbohrte … Meine Hände begannen zu zittern. Schweiß brach mir aus allen Poren. Gelähmt, schaudernd sah ich den Anführer dem Meer zuschreiten; er stieg in die Wogen wie ein Riesenvogel, wie ein Ungeheuer, wie ein Gott.
    Der Bogen erschlaffte. Der Pfeil glitt ab und fiel in den Sand. Ich drehte mich um und floh. Und das war die zweite Schlacht.

6
    D ie ums Leben gekommenen Priesterinnen wurden zum Heiligtum getragen, wo man sie wusch und in Sterbegewänder kleidete. Um ihr gelöstes Haar wurde nur das weiße, mit einem Eichenblatt geschmückte Stirnband geschlungen. Dann wurden sie im Licht der Fackeln auf weiß bezogene Bahren gebettet, während ihre Gefährtinnen zum Klang der kleinen hölzernen Tempeltrommeln die Totengebete sangen.
    Die Luft war vom Prasseln des Feuers und von Wehklagen erfüllt. Doch allmählich erloschen die Brände. Über die verwüstete Stadt kehrte Ruhe ein. Verstörte Menschen irrten hustend durch die Trümmer und suchten nach Familienangehörigen. Andere sammelten das wenige Hab und Gut, das von Plünderungen verschont geblieben war. Man brachte Wasser und Lebensmittel in die Lagerräume und verstärkte die Befestigungswälle. Die Zeit drängte: Die Sperbermenschen hatten sich auf die Inseln zurückgezogen, aber wir wussten, dass uns noch vor Morgengrauen ein neuer Angriff bevorstand. Auch sie hatten starke Verluste erlitten. Ihren grausamen Sitten entsprechend, wurden alle Schwerverwundeten umgebracht.
    Nachdem Miwa mich gewaschen und meinen Verband erneuert hatte, kleidete ich mich in Trauergewänder aus grobem Leinen. Ich flocht weiße Bänder in mein Haar und schnürte ebenfalls weiße Bänder um Hand- und Fußgelenke. Dann verteilte ich weißen Puder auf Gesicht und Händen und bat meinen Onkel Tsuki-Yomi zu mir. Auch er trug die vorgeschriebenen Trauergewänder. Zwei Schwerter, ein kurzes und ein langes, staken in seiner Gürtelschärpe. Sein Ausdruck war gefasst, doch ich, die ihn gut kannte, spürte seine Unruhe. Gemessen verneigte er sich. Ich erwiderte ehrerbietig seine Begrüßung und kam unverzüglich zur Sache. »Verehrungswürdiger Onkel, ich bitte Euch, mir beizustehen. Ich habe beschlossen, die Sternenmacht anzurufen.«
    Er saß vor mir in bewegungsloser Haltung, während seine schwarzen Augen mich prüfend musterten.
    Â»Eure Verletzung hat Euch geschwächt«, erwiderte er schließlich. »Seid Ihr sicher, dass Eure Kräfte dazu ausreichen werden?«
    Â»Ich habe keine Wahl«, entgegnete ich. »Möge Euer Geist mir bei meiner Aufgabe beistehen.«
    Im Schweigen, das folgte, vernahm ich deutlich das Läuten der Tempelglocken. Dann verneigte sich Tsuki-Yomi langsam und feierlich.
    Â»Es wird mir«, sprach er, »eine Ehre sein.«
    Wenig später verließ ich, auf seinen Arm gestützt, mein Zimmer. Tsuki-Yomi hatte die notwendigen Anweisungen gegeben. Schon bildete die Leibgarde rings um den Innenhof einen dichten Kreis. Rüstungen und Schilde funkelten. Die Kunde, dass ich die Sternenmacht anrufen würde, hatte sich in Windeseile verbreitet. Dicht gedrängt und in feierlicher Stille warteten die Leute vor dem Festungstor.
    Es war die Zeit, in der das Licht sanfter, die Hitze schwächer wurde. Schatten zogen auf. Genau in der Mitte des Hofes war ein Kohlenbecken auf einem Dreifuß aufgestellt. Schon stieg eine dünne blaue Rauchspirale in die Abendluft. Ich kniete vor dem Dreifuß nieder und Tsuki-Yomi tat das Gleiche im vorgeschriebenen Abstand von fünf Schritten. Schweigend sah er zu, wie ich die Bänder aus meinem Haar löste, die Falten meines Gewandes eng um die Knie zog.
    Die Tempelglocken verstummten.
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