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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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Es wurde sehr still. Ich sprach das Gebet der Großen Läuterung und der Hof wurde zum Mittelpunkt der Welt. Mit Zeige- und Mittelfinger der linken Hand zog ich die gleichmäßigen Windungen zweier Schlangen um mich herum in den Sand. Sie stellten das ewige Fortbestehen des Lebens dar. Dann öffnete ich einen kleinen Seidenbeutel und streute ein Pulver, das aus Eichenrinde und verbranntem Hirschgeweih gewonnen wurde, in das Feuer. Ich neigte mich über den Dreifuß und sog mit halb geschlossenen Augen den herben, bitteren Geruch ein. Der Rauch schimmerte rötlich in der Abendsonne. Bald war mir, als ob die Schlangenlinien lebendig wurden, sich aufrollten und wieder zusammenzogen. Wie durch Nebel erblickte ich in weiter Ferne die wachsamen Züge meines Onkels. Immer schneller, zuckender, schienen sich die Sandwellen zu kräuseln; sie glitten über den Hof, krochen dem Horizont entgegen … dem Horizont, der sich nun öffnete, während die gewaltige Sonnensphäre in dunkelroter, flammender Nähe pulsierte, sich ausdehnte … auseinanderbrach! Von jeder Schwere, jedem Gefühl befreit, stieg ich zu den Gestirnen empor. Immer blendender wurde das Feuer; ich schwebte hindurch, ich verbrannte mich nicht. Die Flammen zerbarsten in Funkengarben. Ich durchquerte die letzten pulsierenden Glutlöcher. Alles erlosch. Das Feuer blieb in weiter Ferne zurück. Dunkelheit brach ein. Ich glitt in einer Spirale durch wogende Finsternis. Allmählich breitete sich ein fahler bläulicher Schimmer aus, erfüllte den ganzen Himmel. Eine Gestalt bewegte sich im silbrigen Licht, schien über den Wolken zu fliegen. Es war kein menschliches Wesen, sondern ein Tier. Und mit einem Mal erkannte ich es; mein Herz schlug laut vor Freude. Hi-Uma, das Himmlische Pferd, mein Gefährte, mein Freund. Laut rief ich seinen Namen. Frei, stolz und kraftvoll galoppierte es heran. Seine Augen funkelten, seine Mähne wehte wie ein Kometenschweif. Ich schwang mich auf seinen Rücken, schwebte mit ihm in silberklare Tiefen. In nie gekannter Freiheit überflogen wir glitzernde Sternenmeere, tauchten ein in leuchtende Schatten. Und da! Das Schwert mit den sieben Klingen erhob sich über den Wolkenfeldern, richtete sich auf wie ein Riesenbaum, der aus dem Herzen des Alls emporwächst. Es schwebte heran, kam näher, wurde greifbar. Ich streckte die Hand aus. Meine Finger schlossen sich fest um den Griff. Die Waffe war mit einer Inschrift versehen, einem Zauberspruch, in Silber eingelegt. Um sie deutlicher zu sehen, zog ich die Waffe näher heran. Doch gerade als ich die Inschrift lesen wollte, fing das Schwert Feuer. Ich schrie auf, zog die Hand hastig zurück. Das Schwert war ein Leuchten, ein brennender Busch, der die Dunkelheit mit Blitzen füllte. Ein Feuervorhang schlug mir in die Augen. Alles riss auf, zerbarst, flog in Fetzen.
    Ich versank in Finsternis und Stille.
    Als ich das Bewusstsein wiedererlangte, lag ich in meinem Gemach. Miwa kühlte mit feuchten Tüchern mein glühendes Gesicht. Als sie mir einen Becher an die Lippen hielt, vermochte ich vor Schwäche kaum, den Kopf zu heben. Sie sagte mir, ich hätte das Kohlenbecken umgestoßen und meine Ärmel hätten Feuer gefangen. Dank der Kaltblütigkeit meines Onkels, der die Flammen mit Sand löschte, war ich von Verbrennungen verschont geblieben. Ich erinnerte mich nicht an meine Vision, aber ich wusste, dass Tsuki-Yomi jede Einzelheit meiner Aussagen im Gedächtnis bewahrt hatte: Die Worte einer Schamanin in Trance sind heilig.
    Ich ließ mich kämmen und in ein sauberes Gewand kleiden und wartete auf den Befehl meiner Mutter. Es war bereits Nacht, als sie mich rufen ließ und ich nach der rituellen Waschung ihr Gemach betrat.
    Meine Mutter war nicht allein; im zuckenden Licht der Pechfackel sah ich Tsuki-Yomi mit untergeschlagenen Beinen regungslos auf der Matte sitzen. Ich verneigte mich. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Auf meinen geschwollenen Wangen mussten die Kratzspuren meiner Fingernägel deutlich sichtbar sein.
    Auch die Königin war in Weiß gekleidet. Wie schwarz glänzende, gefaltete Schwingen bedeckten die Haare Schultern und Rücken. Ihr Schwert lag griffbereit neben ihr auf einem seidenen Kissen.
    Â»Die Sternenmacht anzurufen, war ein großes Wagnis«, sagte sie mit ihrer leisen, klaren Stimme. »Du wurdest bereits im Kampf verletzt. Dein Körper ist
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