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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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von dem Geschehen unterrichtet, schickte mir die Hüterin des Feuers ein Zeichen ihres Beistandes.
    Da vergingen meine letzten Zweifel. Alles war richtig und gut! Ich straffte die Schultern, atmete tief und befreit. Die Luft war Licht. Das Licht war Leben. Der furchtbare Fluch war gebannt. Und während meine Mutter und ich uns über die Knienden in stummer Verbundenheit anblickten, brach lautes Flügelschlagen die Stille. Hunderte von Seeschwalben lösten sich aus den Spalten der Basaltwand, kreisten berauscht im flimmernden Licht und schwangen sich höher, immer höher, der Sonne entgegen.
    Es war noch früh am Morgen. Der Himmel strahlte in tiefem, schwindelerregendem Blau. Der frisch geharkte Sand glänzte. Die Zinnen der Befestigungsmauern warfen feurige Flammen, der goldene Strohlehm glitzerte, die Schiebewände schimmerten in milchigem Licht. Alles glühte, funkelte, blendete wie die Klingen von tausend Dolchen.
    Vor die Königin und den versammelten Hofstaat führte man den , dessen Name verflucht ist, in die große Halle im »Ort des Mittelpunktes«. Er war nicht gefesselt, doch hatte man ihm seine Waffen abgenommen. Zwei Offiziere mit aufgepflanzten Speeren standen an seiner Seite. Er hielt die Schultern gebeugt. Das zerzauste, verfilzte Haar fiel über die zerknitterten Kleider. Ein trotziger Ausdruck verhärtete seine Lippen; die erbarmungslose Helle ließ seine Wangen noch eingefallener, die Schatten unter den tiefschwarzen Augen noch dunkler erscheinen.
    Ich kniete neben meiner Mutter, der Königin, die geistesabwesend ihren Fächer bewegte. Ihr weiß gepudertes Antlitz ließ kein Gefühl erkennen. Sie hielt die Augen gesenkt und hob sie auch nicht, als der Schatten des Mannes vor ihr auf die Bodenplatten fiel.
    Mit eisigem Gesicht verneigte sich Tsuki-Yomi und sprach: »Eure Majestät möge geruhen, ein Urteil zu fällen. Der Hohe Herr hier hat durch seine Freveltat das Land von Yamatai in die längste Nacht und die größte Not gestürzt.«
    Nachdem er gesprochen hatte, verneigte er sich ein zweites Mal, wippte auf seine Fersen zurück und wartete. Nur das Zwitschern der Vögel auf den Strohdächern, das gelegentliche Klirren der Waffen belebten die bleierne Stille. Alle Gesichter blickten unbeteiligt, gelassen. Niemand rührte sich. So verlangten es Achtung, Ehre, Höflichkeit. War der Angeklagte nicht der Bruder der Königin? Wieder warf ich meiner Mutter einen verstohlenen Blick zu. Kein Muskel bebte in ihrem Gesicht. Ihre Augen blieben gesenkt. Doch dann sah ich ihre Hände. Sie waren so fest um den Griff ihres Fächers verkrampft, dass die Knöchel wie weiße Elfenbeinstäbe hervortraten.
    Endlich hob sie die Lider, betrachtete den Mann vor ihr, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Und der erwiderte ihren Blick, starrte sie an mit seinen düsteren, festen Augen. Und ich spürte in ihrer stummen Begegnung ein Vibrieren, ein unsichtbares, leidenschaftliches Band. Schamröte überflog mein Gesicht: Als hätte ich zu viel gesehen, zu viel erahnt, senkte ich verstört die Wimpern. Mein Herz klopfte so stark, dass es schmerzte. Ich hatte plötzlich das Verlangen zu fliehen. Doch wohin sollte ich mich wenden? Es gab kein Entrinnen. Niemals. Nirgendwo. Da bewegte meine Mutter ganz leicht den Kopf, ihre Augen schlugen mich sanft und unwiderstehlich in ihren Bann. Mein Atem stockte vor diesem Blick, der um Hilfe flehte, während leise und beherrscht ihre Stimme erklang:
    Â»Toyo-Hirume-no-Miko, sprecht das Urteil an meiner Stelle.«
    Da wurde das Schweigen der Anwesenden so tief, dass jeder nur seinen eigenen Atem vernahm. Und dieses Schweigen hatte nichts gemein mit Ehrfurcht, sondern nur noch mit Entsetzen.
    Ich saß wie erstarrt, spürte den Schweiß aus allen Poren brechen, mir klebrig über den Rücken laufen. Meine Fäuste krampften sich um den Saum meiner Ärmel. Ich bohrte mir die Nägel ins Fleisch, empfand aber keinen Schmerz. Die Worte meiner Mutter hallten in meinem Kopf wider. Wie konnte sie mir das antun? Warum sollte ich das Urteil sprechen? War sie meiner wirklich so sicher? Hilf mir, ich bitte dich!, flehten die Augen meiner Mutter, und ich begriff: Wenn sie mir diesen Auftrag gab, dann musste sie meiner sicherer sein, als ich es selbst war! Ich fühlte mich überwältigt von einer Macht, die größer war als meine, und deutete kaum merklich ein Zeichen der

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