Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
war?
    Wir hatten die Baumgrenze nicht verlassen; knorrige Fichten wuchsen hier und der »Sakaki-Busch« vor dem Eingang der Grotte schüttelte sich in Regen und Wind. Wir nannten ihn den »heiligen Busch«, weil er zu allen vier Jahreszeiten sein grünes Laubgewand behielt. Eine unterirdische Quelle mochte seine Wurzeln mit Wasser versorgen, sodass er seit vielen Jahrhunderten kräftig emporstrebte.
    Man setzte die Sänften der königlichen Familie, der Priesterinnen und der Würdenträger in kurzem Abstand vor der Grotte nieder. Die Leibgarde mit gezücktem Schwert bildete einen Halbkreis. Bald war eine große Menschenmenge versammelt, Frauen, Männer, alte Leute und Kinder, und es kamen immer noch mehr. Der übel riechende Aschestaub bedeckte ihre Haut, ihre Haare, ihre durchnässten Kleider. Die Leute husteten und würgten, starrten mit trüben Augen in den Regen hinaus. Viele, der Erschöpfung nahe, setzten sich, wo sie gerade waren, um wieder ihre Kräfte zu sammeln.
    Der Wind heulte. Weit unten schlug die Brandung an die Klippen. Durch Schaum und Nebel sah ich das kreidige Licht auf der Heiligen Insel wie das Bild eines unruhigen Traumes aufflackern.
    Die weißen Gewänder der Priesterinnen schleiften durch den Schlamm, als sie die »Tamas«, den Heiligen Spiegel und die grünen und weißen Stoffbahnen an den Zweigen des »Sakaki-Busches« befestigten. Dann traten die Musikanten vor. Es wurde Reiswein ausgeschenkt. Mitgebrachte Kürbisflaschen kreisten in der Menge. Ich kostete das süßliche Getränk auf der Zunge und leerte dann meinen Becher in einem Zug. Mein Körper wurde träge, weich, warm. Mir schien, als wäre ein Flimmern in der Luft, das durch die Wolkendecke drang. Feine Strahlenbündel verdichteten sich. War es Einbildung? Schon leicht berauscht, blinzelte ich verwundert, während mir die Trommeln in den Ohren klangen. Hin und her gingen meine halb gedachten Gedanken, vor- und rückwärts auf den Flügeln der Töne. Das Pochen der Trommeln, vom Echo zurückgeworfen, schien aus dem Innern der Erde zu dringen. Es war ein ineinander übergehendes, gedämpftes Vibrieren: ein mitreißendes, schwingendes Pulsieren von fünf Schlägen, dem Klopfen eines erregten Herzens ähnlich.
    Bald mischten sich schrill wie ein Insektenchor die Flöten ein. Der grelle Übergang von einer Tonart zur anderen machte, dass die Menschen nach und nach der Verzauberung erlagen. Den einen befiel sie stärker, den anderen schwächer, aber keiner konnte sich ihr entziehen. Frauen und Männer schlugen mit den Händen den Takt. Die Füße stampften den aufgeweichten Boden. Waffen, Ketten und Armreife klirrten, jeder tanzte nach seiner eigenen Weise, ohne jede Regel oder Zwang, und doch war in den scheinbar zügellosen Bewegungen eine schwingende Harmonie zu spüren, ein Zauber, der ins Blut ging. Auch ich spürte, wie ich die Beherrschung über meinen Körper verlor, wie ich hineingezogen, mitgerissen wurde in das rhythmische Stampfen.
    Mit einem Mal löste sich Ama-no-Uzume aus der Gruppe der Hofdamen. Sie trug ein purpurrotes Gewand und um die Hüften eine mit Goldfäden verzierte Schärpe. Sie hatte ihr Haar mit Spindelbaumzweigen geschmückt und hielt in jeder Hand zusammengebundene Bambuszweige. Mit einem Fußtritt stieß sie eins der Reisweinfässer um, stieg darauf und trommelte mit den Fersen. Ihre schwarz geschminkten Augen waren verschleiert. Bei jeder Halbdrehung des Tanzes zeichneten sich ihre Hüften deutlich ab unter der straff gezogenen Schärpe, in unwiderstehlichen Schwingungen. Ihr langer weicher Hals bog und wiegte sich im Takt. Die zarten Fesseln, die schmalen Arme, die vibrierenden Schultern gaben sich völlig dem Rhythmus hin. Immer schneller, heftiger schlugen die Trommeln. Männer und Frauen schrien, klatschten in die Hände. Ama-no-Uzumes Gesicht war starr und entrückt. Ihre Zähne glänzten zwischen den karminroten Lippen. Gleich schwarzen Flügeln peitschten ihre aufgelösten Haare die Luft. Plötzlich zog sie ihre Schärpe auf, schüttelte ihr Gewand von den Schultern, entblößte ihre vor Tanzlust und Erregung bebenden Brüste. Ein Schrei, ein Kreischen fast aus tausend Kehlen hallte über die Felsen, wirbelte gegen die Basaltwand, die den Lärm in ebenso vielen Echos wiedergab. Betäubt starrte ich auf Ama-no-Uzume, die auf

Weitere Kostenlose Bücher