Im Zeichen der Sechs
während wir den Kanal überquerten, eine Geschichte erzählt«, sagte der Kapitän. »Wie es scheint, sind einige meiner Besatzungsmitglieder davon überzeugt, daß wir einen Geist an Bord haben.«
»Es spukt auf dem Schiff«, sagte die Engländerin.
Sie hockte auf der Stuhlkante, klein und vogelartig; während des ganzen Essens hatte Doyle kaum Notiz von ihr genommen, aber jetzt, nachdem sie den Fuß in ihr Element gesetzt hatte, erkannte er das leicht übergeschnappte Funkeln in ihren blassen Augen: Sie war eine Wahre Gläubige.
»Ich fürchte, ich kann nicht mit Gewißheit sagen, daß dem so ist, Mrs. Saint-John«, erwiderte Kapitän Hoffner und wandte sich, wieder im Tonfall des Bedauerns, an Doyle. »Wir haben seit etlichen Jahren an Bord der Elbe eine Serie von seltsamen und … unerklärlichen Begebenheiten erlebt.«
»Warum erzählen Sie Mr. Conan Doyle nicht von der jüngsten Episode, Captain?« sagte Mrs. Saint-John und ließ ein nervöses Lächeln aufblitzen; dabei klapperte sie heftig mit den Lidern.
»Es hat sich heute abend zugetragen«, sagte Hoffner achselzuckend und senkte die Stimme.
»Nach dem Ablegen?«
Hoffner nickte jäh. »Eine Passagierin hörte seltsame Geräusche aus dem Frachtraum: mehrere kreischende Schreie, wiederholte Klopflaute …«
»Weitere Zeugen?« fragte Doyle.
»Nein – nur diese eine Frau.«
»Ein klassischer Spuk«, erklärte Mrs. Saint-John, und ihre Finger nestelten nervös an ihrem Serviettenring. »Ich bin sicher, Sie stimmen meiner Diagnose zu, Mr. Conan Doyle: Schritte in einem leeren Hur, dumpfe Schläge, Klopfen, traurige Stimmen. Und die Erscheinung einer hochaufragenden grauen Gestalt in einem Gang auf dem Frachtdeck.«
»Nichts davon sehe ich jemals selbst, wohlgemerkt«, sagte Hoffner, um die Sache herunterzuspielen: Auf seinem Schiff war offensichtlich kein Platz für einen glaubhaften Geist.
»Captain, haben sich an Bord der Elbe irgendwelche Tragödien abgespielt?« fragte Doyle.
»Dieses Schiff ist jetzt seit zehn Jahren auf dem Wasser, und ich bin jeden einzelnen Tag darauf gefahren. Wo immer Menschenleben derart regelmäßig zusammenkommen, muß zwangsläufig und bedauerlicherweise auch die Tragödie eine Rolle im Geschehen spielen«, antwortete Hoffner.
»Traurig, aber wahr«, sagte Doyle, überrascht darüber, wie dicht Hoffners Bemerkung an Redegewandtheit grenzte. »Gab es etwas, das besonders herausragte? Gewaltsame Morde oder Selbstmorde von eindrucksvoller Brutalität?«
Die Bürger und ihre Gattinnen wirkten ein wenig bestürzt.
»Verzeihen Sie mir meine Unverblümtheit, meine Damen und Herren, aber es hat keinen Sinn, um den heißen Brei zu reden. Phänomene, wie Mrs. Saint-John sie beschreibt, resultieren für gewöhnlich aus irgendeinem schrecklichen Unglück, das sich nicht aus der Welt wünschen läßt, indem wir uns im Interesse der Schicklichkeit auf Zehenspitzen um die Tatsachen herumdrücken.«
Endlich, dachte Doyle beglückt, ein Gesprächsthema, das ich ausschlachten kann.
»In früheren Zeiten«, sagte der Kapitän vorsichtig, »hat es ein paar solcher Fälle gegeben.«
»Sei’s drum; ich will Sie in gemischter Gesellschaft nicht bedrängen, Details preiszugeben. Ich will Ihnen eine interessante Theorie über Geister darlegen, meine Damen und Herren – meiner Ansicht nach die plausibelste, wenn Sie dem Phänomen überhaupt Glauben schenken wollen: Erscheinungen dieser Art bestehen aus den emotionalen Spuren eines Lebens, das unerwartet oder in großer spiritueller Unordnung geendet hat – deshalb stehen Geistersichtungen häufig in einer Beziehung zu Mord- oder Unfallopfern oder Selbstmördern, sind, wenn Sie so wollen, das Äquivalent eines Fußabdrucks an einem Sandstrand, ein Überbleibsel, das außerhalb unserer Zeitwahrnehmung lebt und in keinem engeren realen Zusammenhang zu seinem Urheber steht, als den Fußabdruck mit der Person verbindet, die ihn hinterließ –«
»O nein. Nein, nein, nein; was einem begegnet, ist die unsterbliche Seele des armen Unglücklichen selbst«, widersprach Mrs. Saint-John. »Gefangen zwischen Himmel und Erde, in der Leere des Fegefeuers –«
»Das ist ein völlig anderer Standpunkt«, sagte Doyle, verärgert darüber, daß er so aggressiv aus der Bahn geworfen wurde. »Einer, den ich leider nicht aus vollem Herzen unterstützen kann.«
»Aber ich kann Ihnen versichern, Mr. Conan Doyle, daß es in der Tat so ist. Wir haben immer und immer wieder diese Erfahrung mit ihnen
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