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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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als das sagenumwobene Land des Überflusses in Sicht kam. Nach zwei Wochen unter Deck in einem verpesteten Höllenloch voll ansteckender Krankheiten und Gewalt, erschien es ihnen zum ersten Mal vorstellbar, daß das Risiko, das sie mit ihrem Leben eingegangen waren, sich gelohnt haben könnte.
    Der Mann stand ganz allein beinahe inmitten der Meute, aber keiner der anderen bedrängte ihn oder rempelte ihn an. Er war mäßig groß und von unauffälliger Erscheinung und brauchte selbst nur wenig Platz; aber wenn es sein Wille war, wurde ihm dieser Platz nicht im mindesten streitig gemacht. Er war weder jung noch alt, und nichts an seiner Gegenwart blieb einem lange im Gedächtnis: Selbst hier, inmitten einer hellwachen, aufgeregten Menge blieb seine Anwesenheit fast unbemerkt – in der Fertigkeit, ein Loch in der Luft zu hinterlassen und sich buchstäblich unsichtbar zu machen, wenn die Situation es erforderte, hatte er sich am meisten geübt. Und auch dann störte ihn niemand; der Respekt, über den er gebot, wurde ihm unbewußt auch gewährt.
    Seine Eltern und seine Familie waren ihm so unbekannt wie diese Fremden hier an Deck; kein ererbter Name war ihm gefolgt, als er nach der Geburt in einem Hauseingang ausgesetzt worden war. Schon früh hatte er eine solche von Selbstvertrauen und Zielstrebigkeit geprägte Kraft an den Tag gelegt, daß die Brüder des Klosters, die den Knaben von Kindesbeinen an aufgezogen hatten, ihn Kanazuchi genannt hatten: den Hammer.
    Wenn das Schiff festgemacht hätte und sie in San Francisco durch die Einwanderungskontrolle gingen, würde kein Beamter auf den Gedanken kommen, er könnte etwas anderes sein, als es den Anschein hatte: einer von vierhundert mittellosen chinesischen Arbeitern aus der Provinz Quongdong auf dem Festland. Er wußte, mit seiner rasierten Stirn und dem zum Knoten gebundenen Zopf konnte er sich darauf verlassen, daß der Weiße Mann unfähig war, ein asiatisches Gesicht vom anderen zu unterscheiden.
    Daß er Japaner sein könnte, ein Menschenschlag, der hierzulande noch selten anzutreffen war, würde keinem von ihnen einfallen, – sein Land lag wieder im Krieg mit China, dem alten, traditionellen Feind; es war also am besten, wenn auch seine Mitreisenden nie herausfanden, woher er in Wirklichkeit stammte.
    Und daß er ein Heiliger von einem uralten Mönchsorden auf der Insel Hokkaido sein könnte, war vollends unvorstellbar.
    Daß er zudem einer der gefährlichsten Männer der Welt war – nun, das war ein Gedanke, der niemals im Gehirn auch nur eines einzigen lebenden Wesens Gestalt annehmen würde; dessen konnte er ganz sicher sein.
    Kanazuchi beendete seine Meditation mit einer Anmut, die seinem ausgeprägten Sinn für ästhetische Ausgewogenheit wohlgefällig war. Während das Schiff sich Amerika genähert hatte, waren die Visionen, die seit drei Monaten seine Träume heimsuchten, verstörender geworden als je zuvor; nur die Meditation hatte noch beruhigend gewirkt.
    Die Aufregung an Deck nahm zu; die Ausläufer einer Stadt auf den welligen grünen Hügeln rückten immer näher heran. Kanazuchi verschob das leichte, längliche Bündel auf seinem Rücken und fragte sich, ob man ihn auffordern würde, es zur Inspektion zu öffnen, wenn sie die Einreisekontrolle erreichten. Viele der Facharbeiter an Bord – Zimmerleute, Maurer – hatten ihr Werkzeug mitgebracht. Vielleicht würde man sie alle ohne Untersuchung des Gepäcks passieren lassen, falls nicht, würde er einen Weg finden, die Behörden zu umgehen.
    Kanazuchi war bereit. Er war jetzt zu weit gekommen Sein Geist war verschlossen für die Möglichkeit eines Fehlschlags. Und er wußte, wenn jemand das Schwert erblicken sollte, würde er ihn umbringen müssen.

2
     
    »Mein Name ist Werner. Wenn ich irgend etwas tun muß, damit Ihnen die Reise angenehmer wird, lassen Sie es mich bitte wissen.«
    »Danke, Werner.«
    Doyle wollte seine Kabine betreten, aber Werner versperrte ihm den Weg.
    »Wenn ich die Kühnheit haben darf: Ich habe von Ihrem berühmten Detektiv gelesen, Sir, und ich würde Ihnen gern demonstrieren, daß der große Mr. Holmes nicht der einzige ist, der die deduktiven Fähigkeiten beherrscht«, sagte der adrette deutsche Steward auf Englisch mit sprödem Akzent.
    »Schön. Wie wollen Sie das anfangen?« fragte Doyle höflich.
    »Ich habe Sie nur ein paar Augenblicke beobachtet, nicht wahr?«
    »Da kann ich Ihnen nicht widersprechen.«
    »Und doch bin ich imstande, Ihnen zu sagen, daß Sie

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