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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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waren, alle wußten sofort, wer er war, und allen Schauspielern hatte es augenblicklich die Sprache verschlagen, als er erschien. Seine Stimme hatte einen tiefen Südstaatentonfall – oder war da ein Hauch von britischem Akzent?
    Ohne etwas von dem Funken der Erkenntnis bei Eileen zu ahnen, wußte Jacob sofort, daß er diesem Mann schon einmal begegnet war, und er erinnerte sich genau, wo: beim Parlament der Religionen im vergangenen Jahr in Chicago. Aber ihm war auch klar, daß Reverend Day seinerseits keine Erinnerung an ihn haben konnte, seines Bartes beraubt, wie er nun war. Die magnetischen Augen musterten Jacob aufmerksam, aber ohne eine Spur von Wiedererkennen.
    Seine Augen sind tödlich, begriff Jacob. Er senkte den Blick auf die Reste seines Apfelkuchens, und sein Herz schlug schneller. Er war schon früher Menschen begegnet, deren Wille eine spürbare Kraft ausübte: Dieser Mann projizierte ihn durch seine Augen, als spanne er einen Muskel. Man durfte nicht in diese Augen schauen. Er wollte Eileen warnen.
    »Und wie geht es Ihnen heute abend, Mr. Jacob Stern?« fragte der Reverend. »Wenn ich recht verstehe, sind Sie irgendwo auf Ihrer Reise erkrankt.«
    »Sehr viel besser, danke«, sagte Jacob und hoffte, Eileen werde ihn anschauen; aber sie war wie gebannt von Reverend Day »Sie sind offensichtlich kein Mitglied dieser Kompanie; darf ich fragen, was Sie in unseren Winkel der Welt führt?«
    »Man könnte sagen, ich bin eine Art Tourist«, sagte Jacob bescheiden. »Ein Mann, der seinen Ruhestand genießt und in den Westen aufbricht –«
    »Was ist das hier eigentlich für eine Gemeinde?« fragte Eileen, die ihre Neugier nicht länger im Zaum halten konnte. »Ich nehme an, Sie haben hier die Leitung; also, was soll das alles? Was hat es für einen Zweck?«
    Reverend Day wandte sich ihr zum erstenmal zu, und die Wucht seines Blicks traf sie wie ein physischer Schlag. Seine Miene wirkte gelassen, ja, freundlich, aber die Kraft in seinen Augen verursachte ihr Übelkeit und drehte ihr den Magen um. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, und sie mußte wegschauen.
    »Gott zu dienen, Miß Temple«, sagte der Reverend schlicht. »Und Seinem Sohn, unserem Erlöser Jesus Christus. Wie wir es alle tun sollten. Es tut mir leid – hat man Ihnen kein Exemplar unseres Handzettels gegeben? Er enthält alle grundlegenden Auskünfte über uns, die man kennen sollte. Wir händigen es jedem unserer Besucher gleich bei der Ankunft aus.«
    Er will, daß ich ihn ansehe, erkannte Eileen; er will es, und ich darf es nicht; ich fühle, wie sein Geist an mir schabt wie eine Spinne, die versucht, in meinem Kopf zu kriechen.
    »Verzeihen Sie, wenn ich diese Bemerkung mache«, warf Jacob ein; er bemerkte ihre Not deutlich und bemühte sich, den Mann von ihr abzulenken, »aber ich hatte den Eindruck, daß Ihr Handzettel sich eher mit den vielen Dingen befaßt, die man nicht tun soll.«
    Day drehte sich langsam wieder zu ihm um; sein Blick verhärtete sich, und er war beinahe zornig. »Sie werden sich erinnern, Sir, daß sogar Gott uns sagte: Du sollst nicht!«
    Er mag es nicht, wenn man ihm widerspricht, dachte Jacob. Auf alle Fälle ist er es nicht gewöhnt, daß man sich ihm gegenüber Freiheiten herausnimmt – und bei diesen Augen in seinem Kopf, welcher verständige Mensch würde es da noch wollen? Na, nur zu, du Ungeheuer, tu mit einem alten Mann, was du an Schrecklichem vermagst – aber krümmst du dieser Frau nur ein Haar, dann werde ich dafür sorgen, daß du den Tag bereust, an dem du zur Welt gekommen bist.
    »Aber nur zehnmal«, sagte er. »Sie sagen es fünfzigmal.«
    »Der strikte Gehorsam gegen den Willen Gottes ist ein schwieriger Weg voller Herausforderungen für jedermann«, sagte Day. »Wir beanspruchen keine Vollkommenheit, Mr. Stern. Wir streben sie nur an.«
    »Die Welt würde Ihnen dafür Beifall spenden. Warum verstecken Sie sich so?«
    »Die Welt … ist ein böser Ort, wie Sie auf Ihren Reisen sicher nicht umhin konnten zu bemerken. Unsere Hoffnung richtet sich darauf, in den Grenzen unserer Stadt eine bessere Welt für uns zu erbauen. Darum nenne ich mein Heim das Haus der Hoffnung. Und von Gästen erwarten wir, daß sie unsere Bemühungen und unsere Werte respektieren, selbst wenn sie nicht unbedingt mit ihnen einverstanden sind.«
    »Respektieren, sicher«, sagte Jacob.
    Provoziere ihn nicht, Jacob; laß es gut sein.
    Die Augen des Reverends blickten Jacob unverwandt an, und Erkenntnis und tieferes Interesse

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