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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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war, längst alles Eßbare vertilgt, das in Reichweite gelegen hatte. Nachdem sie den Rest des Nachmittags geruhsam im Hotel verbracht hatten – die gedruckten Vorschriften besagten, daß niemand, der nicht zur Gemeinde gehörte, ohne Begleitung in der Stadt herumspazieren dürfe, und Begleitung war ihnen nicht angeboten worden –, waren die Schauspieler pünktlich um acht Uhr zusammengerufen und geradewegs in die Privatwohnung des Reverends geführt worden.
     
    ›Haus der Hoffnung‹ stand auf der Tafel vor der großen Lehmziegel-Hacienda, dem elegantesten Gebäude an der Main Street. Der Speiseraum wies – wie die übrigen Quartiere, in die sie auf dem Weg hinein einen Blick werfen konnten – eine wunderliche Mischung von luxuriösen Stilrichtungen auf: üppige viktorianische Sessel, schlichte norwegische Kommoden, persische Teppiche, orientalische Statuen – es sah aus, als sei ein Dutzend Millionärshaushalte durcheinandergeraten und neu verteilt worden.
    Stumme, freundliche und aufmerksame Weißhemden servierten ihnen ein Nachtmahl von zufriedenstellender Kost, gewürzt mit einem mexikanischen Akzent. Zum Abschluß ergriff Rymer das Wort und brachte mit dem köstlichen Rotwein, den sie tranken, einen Toast aus – zwar war Alkohol den Handzetteln zufolge in The New City verboten, aber im Haus der Hoffnung herrschten offensichtlich eigene Vorschriften. Rymer verwandte die letzten fünf Minuten seines Sermons darauf, sich zu seiner Weitsichtigkeit zu beglückwünschen, mit der er das Ultimative Tournee-Theater in diesen offensichtlich so erleuchteten Vorposten der Zivilisation gebracht hatte.
    »Bravo, Mr. Rymer. Ihre Freundlichkeit wird nur noch durch Ihre epische Beredsamkeit übertroffen.«
    Alle drehten sich um. Reverend Day stand in der offenen Tür. Er hatte die ganze Zeit während Bendigos ausführlichem Vortrag dort gestanden, aber niemand in der Gesellschaft hatte ihn gesehen oder kommen hören. Bendigo verbeugte sich tief in die Richtung des Reverends; er war fast sicher, daß er ein Kompliment erhalten hatte.
    »Aber jetzt müssen Sie mir wirklich erklären«, fuhr der Reverend fort, »wie um alles in der Welt Sie auf einen so faszinierenden Namen für Ihre kleine Truppe gekommen sind.«
    »Nun, wenn ich es selbst einmal sagen darf«, gab Rymer zur Antwort und richtete sich dabei zu voller Größe auf, »wir halten uns stolz zugute, daß wir unserem Publikum ein ultimatives Theatererlebnis zu bieten haben.«
    »Ist das wahr?« sagte der Reverend und ließ sich auf seinem Stuhl nieder; Eileen saß zu seiner Rechten, Bendigo zu seiner Linken, und dann kam Jacob Stern. »Ist Ihnen bewußt, daß ›ultimativ‹ auch soviel wie ›das letzte‹ bedeutet?«
    Das selbstzufriedene Grinsen auf Rymers Gesicht gefror wie eine Blume in einem Schneesturm, und sein Gehirn kam jäh zum Stillstand.
    Das hier wird leichter, dachte Reverend Day, als einem toten Baby die Bonbons wegzunehmen.
    Eileen wußte die Spitze des Reverends zu schätzen, aber als er sich neben sie setzte und sie ihn zum ersten Mal aus der Nähe sah, verschlug es ihr den Atem.
    Ihr erster Gedanke: Dieser Mann stirbt.
    Der Reverend bewegte sich wie ein Insekt, steif und mechanisch, als sitze eine Stahlstange anstelle der Wirbelsäule in seinem Rücken. Der dunkle Anzug hing an seinem. Körper wie ein Segel bei Flaute am Mast. Ein spitzer Buckel wuchs aus seiner linken Schulter, und sein linkes Bein war wie verdorrt. Seine Hände waren lang und schmal, die Finger wirkten lose und waren mit harten schwarzen Haaren bedeckt; sie sahen aus wie die Klauen eines Affen. Das Gesicht war das eines Totenschädels; eine hohe, runde Stirn wölbte sich über tiefliegenden, leuchtend grünen Augen, hohle Wangen lagen eingefallen über einem weißknochigen Kiefer. Wirre schwarze und graue Zotteln von dünnem Haar fielen vom Scheitel bis auf die Schultern herab. Knotige Blutgefäße pulsierten matt um seine Schläfen. Rot leuchtende Narben zogen sich kreuz und quer über seine steife Marmorhaut, als sei er auseinandergeschnitten und von unkundiger Hand wieder zusammengesetzt worden.
    Ich kenne dieses Gesicht, dachte sie; ich habe es schon einmal gesehen. Ich weiß nicht, wo oder warum; aber Gott weiß, es ist eines, das man nicht so schnell vergißt. Sie überlegte, ob sie davon sprechen sollte, aber ein starker Instinkt warnte sie davor, mit ihm zu reden.
    Der Reverend unternahm keinen Versuch, sich bekannt zu machen; er kannte die Namen, die für ihn wichtig

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