Im Zeichen der Sechs
erschien wieder. Doyle hörte auf, im Zimmer hin und her zu wandern; er stürzte seinen Kaffee hinunter und vergaß für einen Augenblick die Schmerzen in seinen Knien. Stern und Innes beugten sich beunruhigt vor. Nur Jacks Miene änderte sich nicht; sein Blick blieb kalt und analytisch.
»Ich sehe, daß ich Ihre Aufmerksamkeit gefesselt habe«, sagte Presto.
»Bitte fahren Sie fort«, sagte Doyle.
»Als Junge verbrachte ich jeden Sommer zu Besuch bei meinem Großvater, der immer noch als Gefolgsmann am Hofe des Nisam im Chow Mahalla lebt; der Sohn des Nisam, der gegenwärtige Nisam, und ich haben zusammen gespielt. Mein Freund bestieg vor elf Jahren den Thron des Herrschers von Haiderabad; damals war er achtzehn. Ich hatte ihn in den dazwischenliegenden Jahren kaum gesehen, während ich meine Laufbahn als Rechtsanwalt begann – als einer der ersten Männer von gemischtblütiger Herkunft übrigens, die vor einem englischen Gericht praktizierten, eine Sache, auf die ich einigermaßen stolz bin. Vor sechs Monaten empfing ich die dringende Einladung, den Nisam in Madras zu besuchen. Ich nahm als sicher an, daß die Gesundheit meines Großvaters der Grund hierfür war, und machte mich gleich auf die Reise. Indessen stellte ich fest, daß mein Großvater, wie man so sagt, frisch und munter war und mit einem fünfzehnjährigen Tanzmädchen von höchst außergewöhnlicher Heiratsfähigkeit zusammenlebte–«
»Wirklich?« platzte Innes heraus. »Wie alt ist er denn?« »Fünfundachtzig – und immer noch ein eingefleischter Libertin. Ich sollte vielleicht erläutern, daß die Kultur dort nicht unsere christliche Überzeugung teilt, derzufolge irdische Freuden eine zerfressende Wirkung auf die Seele ausüben; ganz im Gegenteil, einige der frömmsten Hindus glauben, der Weg zum Himmel sei mit sinnlichen Genüssen gepflastert.«
Doyle räusperte sich theatralisch, und Innes klappte seine Kinnlade, die den Boden zu berühren drohte, wieder hoch.
»So glücklich ich war, Großvater in derart guter Stimmung vorzufinden – sein Nymphchen war in der Tat ganz entzückend –, aber der Zweck meines Besuches blieb mir noch drei Tage lang verborgen, bis der Nisam von einer Tigerjagd zurückkehrte. An diesem Abend speisten wir miteinander in seinen Privatgemächern. Mein Freund hat das letzte Jahrzehnt damit zugebracht, seinen Palast so zu dekorieren, daß er mit den Exzessen eines Louis Quatorze in Wettstreit treten könnte; das beginnt mit einem massiv goldenen Wasserklosett, abscheulich geschmacklos, aber deshalb nichtsdestominder beeindruckend. Nun, und dann erzählte er mir von den verschwundenen Upanischaden. Das Verbrechen war in finsterster Nacht begangen worden; es gab keine Spuren, und niemand hatte sich erbötig gemacht, das Buch gegen ein Lösegeld zurückzugeben, welches der Nisam doch nur zu bereitwillig gezahlt hätte.
Mit meiner Ausbildung im englischen Rechtswesen, so hatte der Nisam – wenn auch unlogischerweise – angenommen, sei ich von allen Menschen, die er auf der Welt kannte, am ehesten dazu fähig, Licht ins Dunkel dieses Geheimnisses zu bringen. Als ich den Versuch unternahm, mit Anstand abzulehnen, und zu diesem Zweck den feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen einem Rechtsanwalt und einem Polizeibeamten in Anschlag brachte, gab der Nisam seinem Verständnis für meine Position Ausdruck, deutete dann aber an, daß es doch schade wäre, wenn er meinen Großvater nicht weiter auf die Weise unterhalten könne, wie dieser es sich im Laufe seines Lebens so nachhaltig angewöhnt habe.«
»Ja, aber das ist doch glatte Erpressung«, rief Innes.
»Und mit einem Lächeln ausgesprochen. Mein Freund, der Nisam, hat die Persönlichkeit einer Kobra. Wie Sie sich vorstellen können, war das Ansinnen, den alten Mann nach fünfundachtzig Jahren fürstlicher Extravaganz nach London zu bringen, gänzlich unerträglich – und hätte für mein gesellschaftliches Leben eine absolute Katastrophe bedeutet –, und so willigte ich ein, nach besten Kräften behilflich zu sein. Für meine Mühe erhielt ich vom Nisam eine nach jedermanns Maßstäben schwindelerregende Summe zur Begleichung meiner Unkosten. Nicht einen Augenblick lang dachte ich, daß die Annahme dieses Auftrags mich zu den höchsten Ebenen der britischen Regierung und dann nach Amerika fuhren würde.«
Presto legte eine dramatische Pause ein und nahm einen Schluck Kaffee.
»Finden Sie dieses Land nicht auch über die Maßen eigentümlich?«
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