Im Zeichen der Wikinger
das hatte er frühzeitig begriffen, durfte man sich nie auf einen Nahkampf mit bloßen Fäusten einlassen. Man musste mit Köpfchen kämpfen und mit jedem Gegenstand, dessen man habhaft werden konnte, sei es eine Flasche, ein Stuhl oder was auch immer – Hauptsache, man konnte ihn werfen, damit zustoßen und auf jemanden eindreschen. Wer bei einer Auseinandersetzung auf Abstand achtete, kam für gewöhnlich weitaus glimpflicher davon.
Plötzlich tauchte Kelly unmittelbar hinter dem Killer unter der Tür auf. Sie hatte den Lederkoffer an die Brust gedrückt, als wäre er angewachsen. Der Rothaarige war so mit Pitt beschäftigt, dass er sie gar nicht bemerkte.
Pitt erkannte die günstige Gelegenheit. »Los!«, schrie er Kelly zu. »Rennen Sie die Treppe rauf und raus aufs Oberdeck!«
Der Killer zögerte einen Moment, wusste nicht genau, ob Pitt nicht bloß einen uralten Bauerntrick probierte. Aber er war ein echter Profi, der auf die Augen seiner Gegner achtete. Er sah, wie Pitt kurz den Blick abwandte, und fuhr herum, als Kelly zur Treppe rannte, die hinauf zum Deck führte. Sofort konzentrierte er sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe, unterdrückte den Schmerz, der durch den gebrochenen Knöchel schoss, und lief teils rennend, teils hüpfend hinter Kelly her.
Darauf hatte Pitt gehofft.
Jetzt war er am Zug. Er sprintete los und sprang dem Killer ins Kreuz. Es war ein brutales Tackling, mit dem er den Gegner wie beim Football mit vollem Körpereinsatz von hinten zu Fall brachte, sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn warf und ihn mit dem Gesicht voran zu Boden rammte.
Pitt hörte, wie der Kopf des Killers mit einem scheußlich dumpfen Schlag und lautem Knacken auf den dünnen Belag des Stahldecks knallte, und spürte, wie seine Glieder erschlafften. Eine Gehirnerschütterung hat er auf alle Fälle davongetragen, dachte er, wenn nicht sogar einen Schädelbruch. Einen Moment lang blieb er schwer atmend auf dem Mann liegen und wartete, bis sein Herz wieder langsamer schlug. Er zwinkerte kurz, als ihm Schweißtropfen in die Augen liefen, und wischte sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht.
Erst dann fiel ihm auf, dass der Kopf des Killers sonderbar verdreht dalag und seine blicklosen Augen weit offen standen.
Pitt legte die Finger an seine Halsschlagader. Er spürte nicht den geringsten Pulsschlag. Der Killer war tot. Er musste schräg mit dem Kopf aufgeprallt sein, sodass er zur Seite gedrückt worden war, und sich das Genick gebrochen haben. Pitt setzte sich wieder hin, lehnte sich an die geschlossene Tür des Stauraums, in dem die Batterien aufbewahrt wurden, und dachte nach. Schlau wurde er aus dem Ganzen nicht. Er wusste lediglich, dass er zufällig dazugekommen war, als jemand eine Frau ermorden wollte, die er vor dem Ertrinken gerettet hatte.
Und jetzt hockte er da und hatte einen Fremden vor sich liegen, den er umgebracht hatte, auch wenn es keine Absicht gewesen war. »Ich bin keinen Deut besser als du«, murmelte er vor sich hin, während er in die blicklosen Augen des Mannes starrte.
Dann dachte er an die Frau.
Pitt rappelte sich auf, trat über den am Boden liegenden Leichnam hinweg und stürmte die Treppe hinauf. Das Arbeitsdeck war voller Schiffbrüchiger, die sich an den von der Besatzung der
Deep Encounter
gespannten Sicherungsleinen festhielten. Klaglos standen sie im Regen, der auf sie einprasselte, und warteten, bis sie an der Reihe waren, und stiegen dann in die Rettungsboote der
Earl of Wattlesfield
, die sie zu dem Containerschiff brachten.
Pitt lief an der Reihe entlang und hielt Ausschau nach der Frau mit dem Lederkoffer, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Er warf einen Blick auf die anderen Boote, die gerade ihre Fracht entladen hatten und wieder auf dem Rückweg zum Forschungsschiff waren. Mit denen konnte sie die
Deep Encounter
nicht verlassen haben. Sie musste also noch an Bord sein.
Und er musste sie unbedingt finden. Wie sollte er Kapitän Burch sonst erklären, was es mit dem Toten auf sich hatte, der drunten im Niedergang lag. Und wie sollte er sonst je erfahren, was hier vor sich ging?
7
Auf der
Deep Encounter
sah die Lage inzwischen wieder besser aus. Bis zum späten Nachmittag waren die Überlebenden der
Emerald Dolphin
bis auf rund hundert Mann und zehn Verletzte, die nicht transportfähig waren, auf die
Earl of Wattlesfield
gebracht worden. Ohne die Menschenmassen an Bord lag das Schiff anderthalb Meter höher im Wasser. Zumal sich inzwischen die
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