Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
westlichen Garderobe besser angezogen. Die Kleidung ließ sich auswechseln, das Gesicht nicht. Ein anderer Haarschnitt wäre gut, dachte er. Damit würde er dann immerhin von hinten nicht mehr auffallen und vielleicht den einen oder anderen MSS-Schatten abhängen können. Es stand ihm ein Auto zur Verfügung, bezahlt von NEC. Trotzdem wollte er sich auch ein Fahrrad zulegen, ein chinesisches. Wenn man ihn fragte, warum kein europäisches, würde er antworten: um fit zu bleiben – und überhaupt, was wäre an einem hübschen sozialistischen Rad auszusetzen? Ja, er würde bestimmt scharf beobachtet werden, anders als in Japan, wo es ihm ein Leichtes gewesen war, Agenten auszuheben und einzuweisen. Dort hatte er im Notfall immer abzutauchen gewusst, in eins der dampfenden Badehäuser zum Beispiel, wo man selten über den Berufsalltag sprach und um so mehr über Frauen und Sport und dergleichen. In Japan war alles Geschäftliche mehr oder weniger geheim. Ein Japaner würde nicht einmal mit seinem engsten Freund, dem er sonst die intimsten Dinge anvertraute, über irgendwelche Interna seines Arbeitsplatzes reden. Ideale Bedingungen für Geheimagenten, nicht wahr?
Nomuri schaute sich um wie jeder andere Tourist und fragte sich, wie er hier zurechtkommen sollte. Als er den weiten Platz überquerte, sah er sich von allen Seiten beobachtet. Wie hatte es wohl geklungen, als die Panzer hier entlang gerollt waren? Er blieb für einen Moment stehen und erinnerte sich… es war genau an dieser Stelle gewesen, oder? Der junge Mann mit Aktentasche und Einkaufsbeutel, der eine ganze Panzerdivision aufgehalten hatte ... indem er einfach nur dastand, weil es der Soldat am Steuer des Panzers einfach nicht fertigbrachte, den Burschen zu überfahren, egal was sein Hauptmann ihm von der Luke aus über die Sprechanlage auch zugebrüllt haben mochte. Ja, es war exakt an dieser Stelle gewesen. Später war der junge Mann mit der Aktentasche natürlich festgenommen und verhört worden, um festzustellen, was ihn bewogen hatte, solchermaßen gegen Regierung und Armee in Opposition zu treten. Nomuri sah sich von der Stelle aus um, an der dieser tapfere junge Mann gestanden hatte, und musste daran denken, dass diese Verhöre wahrscheinlich einige Zeit in Anspruch genommen hatten, weil man es auf Seiten des MSS kaum für möglich halten konnte, dass da ein Mann ganz allein und aus freien Stücken gehandelt hatte, denn so etwas war in diesem Regime bis dahin einfach undenkbar gewesen. Wie auch immer, verlässlichen Quellen zufolge war der junge Mann mit der Aktentasche längst tot, hingerichtet mit einem Pistolenschuss in den Hinterkopf. Ein MSS-Beamter hatte sich dahingehend am Telefon geäußert und war dabei im fernen Amerika belauscht worden. Die Familie des Hingerichteten – laut Auskunft der Quelle eine Frau mit ihrem Säugling – hatte offenbar für die Rechnung der Kugel aufkommen müssen, mit der der Ehemann/Vater/ Konterrevolutionär/Staatsfeind erschossen worden war. Das verlangte das Recht in der Volksrepublik so.
Und als was galten alle Fremden hier? Als Barbaren. Ja , dachte Nomuri, so ist es, Wilbur . Hier und nirgendwo anders wähnte man den Nabel der Welt. Rassismus war in China wie überall sonst auch, nämlich dumm. Dies, dachte Chester Nomuri, hätte die Welt längst am Beispiel Amerikas lernen können, doch schien Amerika diese Lehre selbst kaum umgesetzt zu haben.
Sie ist eine Hure, und zwar eine sehr teure, dachte Mike Reilly mit Blick durch die Scheibe. Ihr unnatürlich blondes Haar musste bald mal wieder nachgefärbt werden, denn am Ansatz schimmerte es dunkelbraun. Das helle Blond stand ihr gut und passte zu den Augen, die einen ganz ungewöhnlichen Blauton hatten. Vielleicht fuhr ihre Kundschaft darauf ab, dachte er, auf die Farbe, denn der Ausdruck war weniger attraktiv. Der Körper hätte von Phidias geformt sein können und war göttinnengleich, anbetungswürdig. Sehr kurvig, die Beine für den russischen Geschmack ein bisschen zu dünn, aber genau richtig zur Präsentation an der Ecke Hollywood und Vine, wenn das denn immer noch eine Gegend ist, an der man sich gern blicken lässt …
… aber der Ausdruck dieser Augen hätte selbst das Herz eines Marathonläufers zum Stocken gebracht. Was mochten das für Erfahrungen sein, die eine Prostituierte einen solchen Blick annehmen ließen? Reilly schüttelte den Kopf. Er hatte in diesem Fach noch nicht gründlich genug recherchiert – das war eher Sache der
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