Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
vollkommen vergessen worden zu sein, dass in dessen Auto noch zwei weitere Menschen ums Leben gekommen waren. Aber wahrscheinlich hätte sich auch über sie keine neue Spur ergeben. Es musste jetzt unbedingt das Täterfahrzeug gefunden werden, ein konkretes Indiz. Wie die meisten FBI-Agenten glaubte Reilly nur an das, was sich anfassen ließ, an Handfestes, das man bei Gericht vorlegen konnte, wo dann andere darüber entscheiden würden, ob es auch als Beweisstück zulässig war. Augenzeugen waren meist unzuverlässig und dienten häufig nur der Verteidigung, wenn ihr daran gelegen war, Verwirrung zu stiften – weshalb Polizei und Justiz nicht so gern auf sie zurückgriff. An dem Lastwagen würden wahrscheinlich Spuren vom Rückstrahl der Panzerfaust zu finden sein, vielleicht sogar Fingerabdrücke, auf jenem Ölpapier etwa, womit in Russland Waffen eingewickelt werden, irgendetwas, am besten eine Zigarettenkippe, denn den Speichelresten ließe sich eine DNA-Probe entnehmen. Einen stichhaltigeren Beweis als diesen gab es nicht (gegen eine Trefferwahrscheinlichkeit von 600 Millionen zu eins kamen selbst die teuersten Rechtsverdreher nur schwer an). Reilly setzte sich engagiert dafür ein, dass auch der russischen Polizei dieses Analyseverfahren verfügbar gemacht wurde, doch die Lieferanten und Einrichter der erforderlichen Labors verlangten Vorkasse, was ein Problem war. Russland schien für wirklich wichtige Dinge einfach kein Geld zu haben.
Alles, was bislang hatte sichergestellt werden können, war der geborstene Gefechtskopf – erstaunlich, wie viel von einem solchen Ding nach der Explosion noch übrig blieb – mit der Seriennummer, die aber nur wenig Aufschluss bieten würde. Aber natürlich musste jeder Spur nachgegangen werden, und zwar bis zur Ziellinie, die in Amerika für gewöhnlich vor der Schranke im Gerichtssaal verlief, vor einem Richter in der Mitte und zwölf Geschworenen in einem Pferch zur Rechten. Was das Verfahren anging, sah in Russland vieles etwas anders aus. Doch eines, was Reilly der Polizei, die er beriet, unbedingt beizubringen versuchte, war, dass jede Ermittlung eine Verurteilung zum Ziel haben sollte. Und dass Fußtritte zwischen die Beine von Verdächtigen eine vollkommen unbrauchbare Verhörtechnik waren. In Russland gab es zwar eine Rechtsordnung, doch der Respekt davor ließ noch einiges zu wünschen übrig. Rechtsstaatlichkeit war vielen eine völlig fremde Vorstellung.
Das Problem, dachte Reilly, bestand darin, das keiner wusste, wie viel Zeit dem Land bleiben würde, zum Rest der Welt aufzuschließen. Es gab hier etliches, was Bewunderung verdiente, vor allem die schönen Künste. Als Gäste mit Diplomatenstatus wurden Reilly und seine Frau häufig eingeladen, mal zu Konzerten (worüber er sich freute), mal ins Ballett (worüber sich seine Frau sehr freute). In beiden Bereichen wurde Kunst auf höchstem Niveau geboten. Doch alles andere lag im Argen. Botschaftsangehörige und CIA-Agenten, die schon vor der Wende in Moskau gelebt hatten, beteuerten allerdings, dass sich bereits unglaublich viel verändert habe. Wenn dem so war, dachte Reilly, wie mochte es dann erst vorher hier ausgesehen haben?
»Ist das alles?«, fragte Tanja Bogdanowa im Zimmer nebenan.
»Ja, danke, dass Sie gekommen sind. Es kann gut sein, dass wir uns noch mal bei Ihnen melden.«
»Am besten erreichen Sie mich unter dieser Nummer«, sagte sie und gab dem Beamten ihre Visitenkarte. »Über Handy.« Noch so ein Luxusartikel aus dem Westen, der nur gegen Devisen zu beziehen war, über die Tanja offenbar in ausreichender Menge verfügte.
Der Vernehmungsbeamte war ein junger Feldwebel der Miliz. Er stand höflich auf, öffnete ihr die Tür und zollte ihr die Bewunderung, die sie wahrscheinlich gewohnt war. Männer aus dem Westen würden sie vornehmlich ihrer physischen Attribute wegen hofieren, ihre Landsleute ließen sich vor allem von ihrer Kleidung bestechen, die von neugewonnenem Reichtum zeugte. Reilly sah ihr in die Augen, als sie den Raum verließ. Jetzt hatten sie den Ausdruck eines Kindes, das sich ertappt gefühlt hatte und feststellte, dass dem nun doch nicht so war. Das Lächeln wirkte durchtrieben und passte nicht in dieses Engelsgesicht.
»Oleg?«
»Ja, Mischka?« Prowalow drehte sich um.
»Sie ist eine falsche Schlange. Eine Spielerin«, sagte Reilly auf Englisch. Prowalow verstand.
»Da geb ich dir Recht. Aber gegen sie liegt nichts vor.«
»Es wäre vielleicht trotzdem gut, sie im
Weitere Kostenlose Bücher