Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
Sitte – und wusste darum nur wenig über Prostitution und deren Betreiber. Jedenfalls war dieser Blick furchterregend und verwies das Gerücht, wonach Aggressivität ausschließlich männlich sei, ins Land der Märchen.
Sie hieß Tanja Bogdanowa und war eigenen Angaben zufolge 23 Jahre alt. Sie hatte das Gesicht eines Engels und die Figur eines Filmstars. Zur Beschreibung ihres Herzens und ihrer Seele fiel dem FBI-Mann nichts ein. Wahrscheinlich war sie wie so viele ihres Schlages irgendwie anders geartet. Vielleicht war sie in ihrer Jugend missbraucht worden. Und obwohl erst 23, schien für sie diese Jugend längst passé zu sein, wenn man den Blick richtig deutete, mit dem sie jetzt die Beamten taxierte, die sie verhörten. Reilly blätterte durch das Dossier, das ihm die Miliz zur Einsicht vorgelegt hatte. Es enthielt nur ein einziges Foto von ihr, schwarzweiß, das sie in Begleitung eines Mannes zeigte. Darauf wirkte sie beschwingt, jugendlich und so reizend, wie es die junge Ingrid Bergman für Bogie in Casablanca war. Reilly vermutete in ihr ein Schauspieltalent. Wenn es sich bei der Frau, die da vor ihm saß, um die echte Tanja handelte, wovon auszugehen war, dann war die auf dem Foto abgebildete etwas Vorgetäuschtes, eine Illusion – wunderschön, aber nicht ungefährlich für den, der sie nicht als Illusion durchschaute. Dem Mädchen auf der anderen Seite des Spiegelglases war zuzutrauen, dass sie einem Mann mit ihrer Nagelfeile die Augen ausstechen und diese roh verspeisen würde, um gleich darauf ihren nächsten Termin im neuen Vierjahreszeiten-Hotel oder im Kongresszentrum Moskaus wahrzunehmen.
»Wer waren seine Feinde, Tanja?«, wollte der Milizbeamte im Verhörzimmer wissen.
»Fragen Sie mich lieber, wer seine Freunde waren«, entgegnete sie gelangweilt. »Dann wäre ich schnell fertig mit der Antwort. Freunde hatte er nämlich nicht, Feinde aber eine ganze Menge.« Sie sprach gebildet, fast gekünstelt. Ihr Englisch war bestimmt genauso gut, was ihren Kurs bei ausländischen Gästen entsprechend aufwertete und wofür sie ein paar zusätzliche Dollar, D-Mark, Pfund Sterling oder Euro kassierte. Worauf sie dann, wenn in Scheinen harter Währung bezahlt wurde, womöglich mit kokettem Lächeln einen kleinen Nachlass gewährte. Vorher oder nachher?, fragte sich Reilly. Er war noch nie zur Kasse gebeten worden, aber angesichts dieser Tanja konnte er durchaus verstehen, warum manche Männer dazu bereit waren.
»Was würde sie verlangen?«, flüsterte er Prowalow zu.
»Mehr, als ich mir leisten könnte«, brummte der Leutnant. »So an die 600 Euro, für einen ganzen Abend wahrscheinlich mehr. Sie ist – erstaunlicherweise – klinisch sauber und hat immer eine gut sortierte Auswahl an Kondomen in der Handtasche, amerikanische, französische und japanische.«
»Wo kommt sie her? Hat sie mal Ballett getanzt?«, fragte der FBI-Mann, weil er ihre anmutigen Bewegungen erklärt wissen wollte.
Prowalow gluckste. »Dafür sind ihre Titten zu dick, und außerdem ist sie zu groß. Sie wiegt, na, ich schätze 55 Kilo oder so, jedenfalls zu viel, um als kleine Bolschoi-Fee über die Bühne zu trippeln. Sie wäre allerdings ein gutes Modell für unsere wachsende Modeindustrie. Aber zu deiner Frage: nein, ihr Hintergrund ist ganz normal. Der Vater war Fabrikarbeiter und ist früh verstorben, die Mutter, ebenfalls schon tot, hat in einem Kaufhaus gearbeitet. Beide sind wohl am Alkohol zugrunde gegangen. Unsere Tanja trinkt in Maßen. Sie hat die Staatsschule besucht, mit durchschnittlichem Erfolg. Keine Geschwister. Tanja ist ziemlich allein auf der Welt, und das schon seit einiger Zeit. Für Rasputin arbeitet sie nun schon seit vier Jahren. Aus der Spatzenschule ist wahrscheinlich nie eine perfektere Hure hervorgegangen. Gregori Filipowitsch hatte sie häufig selbst in Gebrauch, ob auch für Sex oder nur für öffentliche Auftritte, wissen wir nicht. Sie ist aber auch ein Schmuckstück, nicht wahr? Wenn man sie so hört, wird allerdings deutlich, dass sie von ihrem Chef nicht viel gehalten hat.«
»Steht ihr überhaupt jemand nahe?«
Prowalow schüttelte den Kopf. »Nicht, dass wir wüssten. Sie scheint nicht einmal eine Freundin zu haben.«
Die Befragung würde nichts Besonderes zutage fördern, wie Reilly voraussah. Es war, als fischte man in einem trüben Forellenteich nach Barschen. Unergiebig waren auch die 27 vorausgegangenen Befragungen zum Ableben von G. F. Awseijenko gewesen. Darüber schien
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