Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
würden manche ausnahmsweise sogar einmal die Wahrheit sagen. Jeder Minister war fast ausschließlich damit beschäftigt, seinen eigenen Apparat auszubauen, und je besser ihm das gelang, desto näher rückte er an den Platz am Kopf des Tisches heran, den vorläufig noch Präsident Gruschawoi besetzt hielt. Golowko fragte sich, ob auch schon zur Zarenzeit ähnliche Verhältnisse geherrscht hatten. Wahrscheinlich, dachte er. Die Menschen blieben sich doch immer gleich. Was sie damals in Babylon oder Byzanz getrieben hatten, war bestimmt nicht sehr viel anders als das, was bei der nächsten Kabinettssitzung ablaufen würde, also in drei Tagen. Er fragte sich, wie Präsident Gruschawoi auf die Neuigkeiten reagieren würde.
»Wie viel ist schon durchgesickert?«, fragte der Chefspion.
»Es machen bestimmt schon Gerüchte die Runde«, antwortete Minister Solomentsew. »Aber die neusten Schätzungen sind noch keine 24 Stunden alt. So schnell spricht sich das nicht rum. Ich lasse Ihnen die Informationen durch einen Boten zustellen. Ist Ihnen morgen früh recht?«
»Ja, danke. Meine Spezialisten werden anhand der Daten eigene Berechnungen anstellen.«
»Ich habe nichts dagegen«, sagte der Wirtschaftsminister und überraschte Golowko damit ein wenig. Aber die UdSSR war nun einmal passé. Das derzeitige Kabinett mochte ein modernisiertes Abbild des alten Politbüros sein, aber es wurden keine Lügen mehr erzählt … nun, zumindest keine großen. Und das ließ sich durchaus schon als Fortschritt bezeichnen.
11
DER GLAUBE DER VÄTER
Sein Name war Yu Fa An, und er sagte, er sei Christ. Als Monsignore Schepke davon hörte, lud er ihn zu sich ein. Es erschien ein Chinese Anfang fünfzig mit gebeugter Haltung und grau meliertem Haar, wie man es in diesem Teil der Welt nur selten zu sehen bekam.
»Willkommen in unserer Botschaft. Ich bin Monsignore Schepke.« Er deutete eine Verbeugung an und schüttelte dem Mann die Hand.
»Danke. Ich bin Pastor Yu Fa An«, antwortete der Mann würdevoll.
»Ach ja? Von welcher Konfession?«
»Ich bin Baptist.«
»Ordiniert? Ist das hier möglich?« Schepke bat den Gast, ihm zu folgen. Wenig später standen sie vor dem Nuntius. »Eminenz, darf ich vorstellen? Das ist Pastor Yu Fa An … aus Peking?« , fragte Schepke erst jetzt.
»Ja. Meine Gemeinde liegt im Nordwesten der Stadt.«
»Willkommen.« Kardinal DiMilo stand von seinem Stuhl - auf, begrüßte den Gast mit warmem Händedruck und forderte ihn auf, in dem bequemen Besuchersessel Platz zu nehmen. Monsignore Schepke ging Tee holen. »Es freut mich, hier in Peking einem Bruder im Herrn zu begegnen.«
»Es gibt hier nicht wenige, Eminenz«, sagte Yu.
Monsignore Schepke kehrte mit einem beladenen Tablett zurück, das er auf dem niedrigen Beistelltisch absetzte.
»Danke, Franz.«
Yu sagte: »Lassen Sie mich als Bürger dieser Stadt die Gelegenheit ergreifen, Sie bei uns willkommen zu heißen. Ich nehme an, die Begrüßung durch das Außenministerium war, wenn auch korrekt, so doch ziemlich unterkühlt.«
Das Kardinal lächelte und reichte dem Gast eine Tasse. »Sie war korrekt und hätte in der Tat etwas wärmer ausfallen können.«
»Die Vertreter unserer Regierung haben, wie Sie feststellen werden, gute Manieren und achten aufs Protokoll, aber sie sind nicht ehrlich«, sagte Yu in einem seltsam klingenden Englisch.
»Ihre Herkunft ist …?«
»Taipeh. Das ist meine Geburtsstadt. Als junger Mann habe ich in Amerika studiert, zuerst an der University of Oklahoma, dann an der Oral Roberts University, wo ich meinen ersten Abschluss gemacht habe, als Elektroingenieur. Schließlich bin ich aber meiner Berufung gefolgt und habe mich zum Geistlichen ausbilden lassen«, erklärte er.
»Warum sind Sie in die Volksrepublik gegangen?«
»Damals, in den 70er Jahren zur Regierungszeit des Vorsitzenden Mao, wurden Taiwaner, die den Kapitalismus satt hatten, auf dem Festland mit offenen Armen empfangen … Sie wissen schon«, fügte er augenzwinkernd hinzu. »Für meine Eltern war das schwer zu akzeptieren, aber sie konnten mich dann doch verstehen. Gleich nach der Ankunft habe ich meine Gemeinde aufgebaut, was dem Ministerium für Staatssicherheit natürlich überhaupt nicht passte. Aber ich arbeitete gleichzeitig als Elektroingenieur, und zu dieser Zeit waren meine besonderen Kenntnisse sehr gefragt. Erstaunlich, was der Staat einem so alles durchgehen lässt, wenn man ihm nützlich sein kann. Und damals hatte er Leute mit meiner
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