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Im Zeichen des großen Bären

Im Zeichen des großen Bären

Titel: Im Zeichen des großen Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Internats durfte sich nicht blamieren. Herta Donn, die Leiterin, breitete die Arme aus, als wolle sie ihre winzige Person in den Strom der Melodie werfen, und die Mädchen jubilierten: »… und Sänger und Maler wissen es, und es wissen's auch andere Leut'. Und wer's nicht malt, der singt es. Und wer's nicht singt, dem klingt es im Herzen vor lauter Freud'!«
    Nach dem letzten Pianissimo hatte Herta Donn wieder Tränen in den Augen, und die kleine Gräfin Laffert, die das Solo gesungen hatte, erntete ein überschwengliches Lächeln ihrer Lieblingslehrerin.
    Madame Tissot erhob sich. Schwarzes Kleid, Stehkragen, goldene Brosche. Mit herzlichen Worten verabschiedete sie die zehn jungen Damen, die nun also erfolgreich das Internat durchlaufen hatten und heute in die Welt hinausgingen, zurück zu ihren Familien, als Gattinnen zu bereits wartenden Verlobten, in irgendeinen Schutzraum, und wenn es der leere Luxus war, den eine leichtlebige, reiche Mutter und ein unsteter, reicher Vater für das fast erwachsene Mädchen als Übergang in eine reiche Ehe bereitstellten.
    Alice Kellenhusen war eine der zehn jungen Damen, die bei Madame Tissot den letzten Schliff bekommen hatten. Sie konnten nun Englisch und Französisch parlieren, Handarbeiten der feineren Sorte beherrschten sie, auch etwas Mathematik, Physik und Geographie für den Hausgebrauch. Sie konnten selbstverständlich tanzen, reiten und Tennis spielen. Sie wußten, wie man Gäste einlud, Tische deckte, Dienstboten anwies und leitete. Sie wußten alles. Sie waren fromm und erstklassig erzogen. Ein Schmuck für jedes Haus.
    Einzeln wurden sie aufgerufen und traten vor, um ihr Abgangsdiplom entgegenzunehmen. Mireille Gelin, die ›Bohnenstange‹, Grit Rasmussen mit der winzigen skandinavischen Nase und den blonden Locken, Annedore von Schack und Gundi Mafien. Diese vier und Alice waren innerhalb der Klasse enge Freundinnen geworden. Nun trennten sich ihre Wege. Mit achtzehn Jahren stand ihnen die Welt offen. Sie wollten sie aus den Angeln heben, alles anders machen als die Mädchen vor ihnen. Immerhin schrieb man das Jahr 1928. Der alte Zopf war ab. Mädchen waren selbstbewußt. Sie trugen Bubikopf und rauchten Zigaretten aus langen Spitzen.
    Natürlich würden sie heiraten, doch sie wollten sich nicht mehr die Butter vom Brot nehmen lassen. Nun, in ihren Kreisen hatten die Frauen schon immer mehr Freiheiten genossen als in der Mittelschicht. Aber die Ausbildung in einem Schweizer Internat öffnete auch jetzt noch alle Türen.
    Alice stolperte leicht, als sie vortrat, glücklicherweise mit dem linken Fuß, das sollte ja Glück bringen.
    Mit einer leichten Andeutung eines Knickses nahm sie ihr Diplom entgegen. Ihre dunklen Augen richteten sich für zwei Sekunden ungestüm auf Madame Tissot, ehe sie sie niederschlug, und Madame dachte einmal mehr, daß dieses reizende, zierliche Geschöpf mit den anmutigen Bewegungen und dem hellen Verstand etwas Unwägbares hatte, das leider, leider vom väterlichen Erbe stammen mußte. Man hatte sie von ›dieser Geschichte‹ dezent unterrichtet.
    Alices Familie war nicht zu ihrem Ehrentag erschienen. Man wußte, daß sie Waise war und bei ihren Großeltern leben würde. Die Herrschaften waren unabkömmlich auf ihrem Gut. Sie hatten Glückwünsche geschickt und das Geld für die Bahnfahrt in einem speziellen ›Damenabteil‹ erster Klasse.
    Alice freute sich gar nicht, daß die Zeit in Bern vorüber war. Es war herrlich gewesen für ein Mädchen, das keine Geschwister hatte und keine Eltern und diese sehr kühlen Großeltern, hier auf Wärme und Freundschaft und Zuwendung zu treffen.
    Aber natürlich durfte man nicht zeigen, daß man sich ein wenig graulte vor der Rückkehr nach Gut Thießendorf. So drückte sie ihre Nelken an sich, nahm sich zusammen und hielt den Kopf hoch. Nur keine Bange! Ich werde es schon meistern, dachte sie. Das wäre doch gelacht, wenn ich es nicht schaffen könnte!
    Nachmittags bummelten die vier Freundinnen noch einmal die Gerechtigkeitsgasse entlang. Der Bärenplatz, der Käfigturm: Namen, die jedesmal etwas in Alice zum Klingen brachten. Eine wehmütige und berauschende Erinnerung an frühe Kindheit, an Vater und Mutter und an eine Zeit, die sie fest in sich verschlossen halten mußte.
    Die kleinen silbernen ›Backfische‹ mit ihren beweglichen Gliedern, die sie an dünnen Kettchen getragen hatten, schmückten seit gestern bereits die Hälse der Dreizehnjährigen, die gerade stolz ins Backfischalter

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