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Im Zeichen des großen Bären

Im Zeichen des großen Bären

Titel: Im Zeichen des großen Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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eingestiegen waren.
    Sie löffelten Eis mit Sahne und Früchten, kicherten und tratschten noch einmal – wie sonst auch. Und doch war alles anders. Zum letztenmal. Alle ahnten, daß ihre Wege sich trennten, vielleicht endgültig. Sie mußten üben, Abschied zu nehmen, wie sie's später in ihrem Leben noch oft tun würden.
    Grit und Annedore wurden schon von ihren Eltern im Hotel erwartet. Sie reisten früher als Alice ab. Gundi besuchte ihre ausgedehnte Familie in der Schweiz. Nur Mireille brachte Alice zur Bahn am anderen Morgen, an dem Bern sich noch einmal von seiner schönsten Seite zeigte: der Rosengarten und das Aareufer, der Botanische Garten und das Münster, die malerischen Gassen der Altstadt und die Sonne darüber. Und François an der Sperre, mit einem Kasten Pralinen und einer Rose in der Hand und einem Küßchen auf die Wange und dem Versprechen zu schreiben, lange, lange Briefe, vielleicht gar ein Wiedersehen?
    Umarmung mit Mireille, Ansturm von Tränen, das Abteil, Winken. Rattata, rattata … Der Zug rollte, und ein Kapitel war abgeschlossen.
    Alice lehnte sich zurück und schloß die Augen. Aber bereits auf der nächsten Station stieg eine Pastorenfrau zu mit einem lebhaften, etwa zehnjährigen Bengel, der ungezogen und quengelig war und in Alice die Überlegung auslöste, daß besser als so eine Nervensäge auf jeden Fall gar keine Geschwister waren.
    »Wohin reisen Sie denn?« fragte die junge Pastorenfrau.
    »Nach Hause. In Norddeutschland«, sagte Alice einsilbig.
    »Das muß doch sehr aufregend sein, allein eine so weite Reise zu machen?!«
    »Ich bin an Reisen gewöhnt.«
    Das stimmte und stimmte nicht. Als sie klein war, ja, da war sie unentwegt auf Achse gewesen. Ihre Mama, Tochter aus erstklassigem Hause, war eines Tages, blutjung, mit einem Mann durchgebrannt, den Großmutter nur ›den Vagabunden‹ nannte, wenn sie ihn überhaupt einmal erwähnte.
    Der Vagabund war Alices Vater. Sie hatte eine vage, aber wilde Erinnerung an ihn: braun, groß, dunkel, lebhaft, schwarze Locken, blitzende Zähne, starke Arme, die das Kind hochhoben und herumschwenkten, Schultern, auf denen man reiten konnte. Strenge, wenn er verlangte, sie solle dies oder das üben, Flicflac, reiten, auf das galoppierende Pferd springen, seiltanzen. »Du mußt doch etwas von meinem Zirkusblut geerbt haben, Lica«, hatte er oft gestöhnt und dabei gelacht, und ihre zarte Mutter hatte ihn angestrahlt und zu bedenken gegeben: »Lica ist auch meine Tochter, Eric. Wie ich braucht sie ein bißchen Zeit, um alles zu lernen.«
    »Sie fahren sicher zu Ihren Eltern?« fragte die Pastorenfrau neugierig. Der Bengel bemühte sich, den Fenstergurt abzureißen.
    »Meine Eltern sind tot.«
    »Oh!«
    Diese Wirkung kannte Alice. Da verstummten die Leute. Eine Waise fragte man besser nicht allzu sehr aus. Traurig, traurig. Ja, der Vater war eingezogen worden und in Rußland gefallen, und dann hatte auch ihr winziges Zirkusunternehmen mit den vier Wohnwagen und dem Zelt, das von allen Artisten auf den Dorfplätzen aufgeschlagen wurde, Pleite gemacht. Es gab zu wenig Publikum. Und es gab nichts zu essen. Und kein Futter für den Bären. Der Bär war die Attraktion des ›Zirkus Moretti‹ gewesen. Tief in ihrem Herzen bewahrte Alice die Erinnerung an die große Nummer vor der Pause: Ihr Vater als Harlekin turtelte mit ihrer Mama als zarter Colombine im Tütü, und dann brach der Bär in die Manege ein und verfolgte Colombine, die sich auf das Drahtseil hoch oben rettete, und während sie oben balancierte und zierlich einen Seidenschirm hochhielt, spielte sich unten im Sand der Manege ein Schaukampf zwischen Harlekin und Bär ab, mit Verfolgungen und einem Ringkampf als Höhepunkt, den Harlekin gewann. Und während der Bär still im Staub lag, tanzten Harlekin und Colombine um ihn herum. Dann durfte er sich erheben, und alle drei nahmen den Beifall des Publikums entgegen.
    Ihr Bär hatte Ursula geheißen, eine Bärin, und als die Großeltern ihre verlorene Tochter und das Enkelkind heimholten nach Thießendorf, da war Alices kleine Welt verschwunden wie ein Traum. Sie hatten ihr nicht einmal gesagt, wohin sie Ursula gebracht hatten.
    Ihre zarte Mama hatte wohl schon die Schwindsucht in sich getragen die ganze Zeit über. Großmutter hatte Ärzte konsultiert und Kreuztee zubereiten lassen, und Alice hatte ihre Mutter nur noch aus einiger Entfernung sehen dürfen und war untersucht und mit etwas auf dem Rücken eingerieben worden, und es hieß:

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