Im Zeichen des großen Bären
konnten wieder aufrecht umhergehen, ohne Angst vor Geschossen. Ja, ein wenig frühlingsbeschwingtes Glück zog in ihre Herzen ein.
In den Quartieren lag abmarschbereit das 159. Infanterieregiment. Die Soldaten warteten ungeduldig, aber ihr Rücktransport mußte eben organisiert werden. Das dauerte. Sie hatten bessere Uniformen erhalten und wirkten äußerlich wieder proper und wie neu. Nur in die Augen durften sie einander nicht sehen. Da war noch nicht wieder alles glatt und geordnet. Der Truppentransporter war eingetroffen. Es konnte sich nur noch um einen sehr kurzen Zeitraum handeln, bis sie in See stachen.
Und Kitchener? Ihr Bär? Sie hatten ihn gut untergebracht, aber zum Herumzeigen war er doch schon zu groß und kräftig und unberechenbar. Denn ohne Frage war er sehr nervös in letzter Zeit. Wie jedes Tier hatte er empfindliche Antennen für die Stimmung ringsum. Er hatte sich einigermaßen an das Geknalle und Gerumse der Geschosse gewöhnt gehabt, das war schließlich äußerliches Getöse gewesen. Doch nun teilte sich ihm die brodelnde, kaum verhohlene Nervosität seiner menschlichen Betreuer mit. Etwas stimmte nicht. Er trat unruhig von zwei linken Beinen auf zwei rechte und wieder und wieder. Er wiegte den Kopf in unbewußter Verzweiflung. Noch eine Trennung. Irgend etwas Bedrohliches. Er fühlte es und hatte doch nie die schreckliche, allererste, viel zu frühe, von Mutter und Geschwistern, überwunden.
Chuck Brady sah sich den Bären sorgfältig an. »Er ist in erstaunlich gutem Futterzustand«, stellte er fest.
»Wieso ›erstaunlich‹?« schnappte William Rockwell sofort ein. »Wir lassen doch unser offizielles Maskottchen nicht hungern! Er wäre der letzte gewesen, den wir hätten verhungern lassen.«
»Ist ja gut, mein Lieber«, beschwichtigte Brady in seiner etwas öligen Manier. »Würden Sie sagen, daß er bösartig ist?«
»Wieso denn bösartig?!«
»Ich muß mich danach erkundigen. Es gehört zu meinen Aufgaben zu prüfen, ob dieser Bär sich als … äh … Mitglied unseres Zoos eignet. Wie Sie wissen, hat er Weltgeltung.«
»Sonst hätten wir ihn auch kaum ausgewählt. Übrigens: Der Bär heißt ›Kitchener‹. Er ist an seinen Namen gewöhnt.«
»Okay, okay. Also …« Brady ergriff eine Banane und hielt sie durch die Käfigstäbe. »Kitchener, schau mal, schau«, schmeichelte er.
Was tat Kitchener? Er antwortete ganz deutlich mit einem Goethezitat. Nicht stimmlich, aber durch eine Geste. Er drehte sich nämlich um und zeigte Chuck Brady sein Hinterteil.
»Er mag Sie nicht«, stellte Rockwell denn auch schadenfroh fest.
»Wir werden uns schon noch anfreunden«, sagte Chuck phlegmatisch. »Jetzt ist er nervös. Er ahnt etwas. Es wird nicht ganz einfach sein, Kitchener in den Transportkäfig zu kriegen.«
»Versprechen Sie sich von uns nicht zu viel Hilfe«, mahnte William Rockwell und fühlte zu seiner eigenen Überraschung tiefe Abneigung gegen diesen gelassenen Londoner Kerl, ja, sogar etwas wie Haß in sich aufsteigen. Das war natürlich ungerecht, und er wußte es. »Können Sie ihm nicht ein Beruhigungsmittel geben? Oder vielleicht Schlaftabletten?« fragte er.
»Nein, ich glaube nicht, daß das Zweck hätte. Ich werde versuchen, ihn in den Transportkäfig hineinzufüttern.«
»Wie das?«
»Warten, bis er hungrig ist, dann Sachen, die er gern frißt, auf der Strecke zwischen seinem alten und dem neuen Käfig aufbauen. Das Beste im neuen Domizil, das klappt eigentlich immer.«
»Was heißt immer?« Rockwell war bereits wieder sauer. »Kitchener ist ja nicht jeder!« Aber dann besann er sich und erließ einen Aufruf, während Kitchener auf Diät gesetzt wurde. »Wer unserem Kitchener zum Abschied noch irgendeinen Leckerbissen zukommen lassen möchte, der hat jetzt Gelegenheit. Alle Abschiedsleckereien sind bitte abzugeben bei Bärenführer William Rockwell.«
Die meisten der Männer waren schon im Geiste unterwegs, wieder daheim, bei ihren Lieben. Die Verladung hatte begonnen. Es handelte sich nur noch um Stunden, dann war der europäische Spuk vorüber.
Trotzdem kamen viele und gaben Kuchen und Konfitüren ab, und Arthur Shenessy kochte noch einmal Vanillepudding, den äußersten Gipfel von Kitcheners kulinarischen Vorlieben, wie man wußte.
Shenessy kaute immer noch ein wenig an der Schuld, Kitchener die Flucht ermöglicht zu haben, andererseits hatte er dadurch auch viel Gutes bewirkt, und darauf kam es schließlich an. Kitchener jedenfalls war nicht böse gewesen,
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