Im Zeichen des großen Bären
ihr kurzes Leben gegeistert war. Alice hatte manche Erinnerung an sie, und doch konnte sie sich vor allem an die leichtfüßige Gestalt erinnern, die im Tütü vor dem Bären floh und leichtfüßig-vorsichtig auf dem Seil balancierte, das bunte Schirmchen als einzigen Halt in der Luft. Ja, so hatte sie wohl gelebt: intensiv und flüchtig zugleich. Alice wußte wohl, was die forschenden Blicke bedeuteten, mit denen ihre Großmutter sie ansah. Sie fürchtete an der Enkelin das Erbe nicht nur des Vaters, sondern auch der Mutter, die alles fortgeworfen hatte, was gute Erziehung und Fürsorge und ererbte Verpflichtung bedeuteten, und mit diesem Kerl auf und davon gegangen war. Aus Liebe! Welch abscheulicher Zustand, so außer sich zu geraten, daß man alle Rücksichten vergaß.
Alice kauerte sich zu dem Grabhügel ihrer Mutter hinunter, doch ernste Trauer wollte sich nicht einstellen. Nur diese sentimentale Regung, die auch ein wenig Selbstmitleid enthielt.
Abends, als sie traditionsgemäß am Kamin saßen, sagte der Großvater: »Die politische Lage spitzt sich immer mehr zu. Wir driften ins Chaos. Die Radikalen links und rechts kochen groß ab. Keine günstige Situation für uns. Deine Großmutter als Britin hat den Weltkrieg unbehelligt hier auf Gut Thießendorf zugebracht. Aber inzwischen installiert sich eine Form von Nationalismus, der bösartig und blind ist.«
Die Großmutter fuhr fort: »Wir leben zurückgezogen. Für uns ist das gut und richtig. Aber du bist ein junges Mädchen, eine junge Dame, die unter Menschen sein sollte. In der richtigen Gesellschaft natürlich. Sogar gegen einen Ball ist nichts einzuwenden, wenn er in einem guten Rahmen stattfindet.«
»Ich habe schon Bälle mitgemacht, Großmutter.«
»O ja, das meine ich doch. Was würdest du sagen, wenn wir dich für einige Zeit zu Tante Elizabeth nach London fahren ließen? Sie lebt in der Stadt und wird sich um dich kümmern.«
»Großmutters Schwester führt dort ein großes Haus«, ergänzte der Großvater.
Alice zögerte. »Ach, ich weiß nicht …« Am liebsten hätte sie gesagt, sie wolle nicht in fremden, großen Häusern leben, sie suche eine Heimat, die Wärme einer Familie, Geborgenheit und Zuneigung. Aber sie unterdrückte diese Bemerkung.
Die Großmutter lächelte auf ihre abgemessene Art. »Mit einem Wort: Wir haben dich bereits bei Tante Elizabeth angemeldet. Sie ist, wie du weißt, viel jünger als ich. War das Nesthäkchen. Ihr Mann, Onkel Ben, den sie schrecklicherweise alle Big Ben nennen, ist ein erfolgreicher Bankier. Sie führen ein großes Haus. Und sie haben keine eigenen Kinder.«
Der Großvater schmunzelte. »Deine Großmutter und ich haben uns übrigens auf einem Ball in London kennengelernt.«
Alice wurde rot. Sie wußte, daß an ihren Aufenthalt in London der Wunsch und die Erwartung geknüpft war, sie möge dort den richtigen Mann treffen. Einen Mann aus erstklassiger Familie, damit der Makel wieder ausgelöscht war, den ihre Mutter mit ihrer sonderbaren Wahl der Familie aufgeladen hatte.
»Wann werde ich reisen?« fragte Alice.
Die Großeltern atmeten sichtlich auf. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, ihre Enkelin werde Schwierigkeiten machen oder zumindest an der Wahl des neuen Aufenthaltsortes herummäkeln.
»Wir dachten: in vier Wochen etwa, wenn es dir recht ist«, sagte Deborah Kellenhusen ungewohnt sanft.
»Schließlich möchten deine alten Großeltern auch einmal etwas von dir haben«, fügte Heinrich Kellenhusen hinzu.
Alice war selbst überrascht, daß sie schlucken mußte vor Rührung. Natürlich, diese beiden Menschen liebten sie auf ihre Weise. Sie waren etwas hilflos jungen Leuten gegenüber. Ein Sohn war bereits als Kind an Diphtherie gestorben. Die Tochter hatte sie eines Vagabunden wegen verlassen. Nun war hier die Enkelin, die einzige Brücke für sie in die Zukunft. Sie wollten keine Fehler machen. Außerdem gewann jeder, der einige Zeit mit ihnen zusammen war, den Eindruck, hier seien zwei Menschen sich selbst genug.
So verlebte Alice einige friedliche Wochen auf Gut Thießendorf. Sie ritt den Braunen, ließ sich von der Förstersfrau Milch von der Ziege kredenzen, spielte mit den beiden winzigen Hündchen, die Dinah, die Jagdhündin, zur Welt gebracht hatte, und stiefelte mit ihrem Großvater über die Felder.
Es war schön. Es war wunderschön. Alice liebte das weite Land und das breite, behäbige Leben darauf. Sie setzte sich bei schönem Wetter auf einen Hocker in den Park, um einen
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