Im Zeichen des großen Bären
gewesen war. Den hätte ich doch nie dazu gebracht, sich zu erklären, dachte sie. Aber dann schob sie diese Gedanken von sich. Ich habe es natürlich auch gar nicht gewollt. Im Kino hat er viel zu laut gelacht. Und seine Hand war ganz feucht. Nein, nein, François war lieb, aber als Heiratskandidat unmöglich.
Bevor Alice abreiste, kam noch die Hausschneiderin. Stoffe wurden aus der Stadt geliefert. Modezeitungen waren zu prüfen. Selbstverständlich hatte Alice eine hübsche Garderobe aus der Schweiz mitgebracht. Bern lag schließlich nicht hinterm Mond. Aber nun war doch einiges zu ergänzen. Vor allem mußte ein Ballkleid her.
Frau Kellenhusen schwebte ein duftiges rosa Etwas mit weitem Rock und Rüschen vor, doch hier wurde Alice ungewohnt eigensinnig. Schließlich setzte sie ihre Vorstellung durch: reine, champagnerfarbene Seide, ganz glatt und schlicht obenherum verarbeitet, mit angeschnittenen Trägern. Der Clou war, daß der Rock hinten lang war und vorn nur bis zum Knie reichte. Wie ein Wasserfall wirkte das. Alice war begeistert.
»Findest du nicht, daß es ein wenig nach einem Bühnenkostüm aussieht?« fragte die Großmutter.
»Überhaupt nicht. Wir lassen doch die Schleife hinten weg. Eigentlich weiß ich aber gar nicht, wie ein Bühnenkostüm aussieht«, sagte Alice und hatte wieder diesen flammenden Ausdruck, der ihre Großmutter stets erschreckte.
Diesmal brachten beide Großeltern ihre Enkelin an die Bahn. Budder kutschierte die Droschke, mit der man auch sonntags zur Kirche fuhr, mit dem Schimmel und dem Braunen davor, die ihre gutgenährten Hinterteile vor den Herrschaften wiegten.
Der Abschied war beherrscht wie das Wiedersehen vor Wochen. Alice ließ sich umarmen, Großvaters Schnauzbart kitzelte ein wenig. Großmutter roch nach Lavendel.
Als der Zug bereits angebimmelt kam, umarmte die Großmutter sie noch einmal und sagte: »Ich bete für dich.«
Alice errötete über und über. Dies war sicher das größte Geschenk, das Deborah Kellenhusen ihr machen konnte. Noch später, als der Zug durch das flache Land fuhr und die Telegrafendrähte zu tanzen und zu schwingen schienen, gingen Alice die Worte nicht aus dem Kopf. »Ich bete für dich.« Sie hatte ein wenig Angst vor der neuen Fremde. Doch sie erwartete auch viel von ihr. Etwas Großes lag in der Luft, das spürte sie deutlich. Etwas wartete auf sie. Ich darf nur den richtigen Augenblick nicht verpassen, lieber Gott, hilf mir dabei, laß mich alles richtig machen, betete sie.
»Sagten Sie etwas?« fragte die Dame gegenüber in den grüngestreiften Polstern, die nach Mottenpulver, Staub und Seife rochen.
Wahrscheinlich habe ich unbewußt die Lippen bewegt, dachte Alice. Laut sagte sie: »Ich übte gerade einen englischen Satz. Glad to see you, Aunt Elizabeth, ob das wohl richtig ist?«
Die Dame zog die Augenbrauen hoch. »Das kommt ja wohl auf die Tante an, ob man froh ist, sie zu sehen, nicht wahr?«
»Ich kenne sie gar nicht.«
»Oh. Werden Sie abgeholt?«
»Selbstverständlich. Mein Onkel schickt eine Kutsche.« Aber so ganz sicher war sie doch nicht. Ja, während der Überfahrt wurde ihr sogar ziemlich bänglich zumute. Was war, wenn sie ganz mutterseelenallein in London saß? Sie hatte die Adresse ihrer Verwandten und die eines seriösen Hotels – für alle Fälle. Aber bisher hatten immer Erwachsene sie gelenkt und geleitet. Nun, wahrscheinlich würde Onkel Ben da sein. Sie schob ihre Bedenken möglichst weit weg. Schwer fiel es ihr nicht, war doch alles neu und aufregend bei ihrer ersten Schiffsreise.
Als sie in Bremerhaven an Bord gegangen war, hatte ihr Herz heftig geklopft. Das Schiff lag ruhig, aber würde es so bleiben? Und wie fand man seine Kabine? Wie den Speisesaal? Was trug man zum Dinner? Wer würde mit am Tisch sitzen?
Als sie an der Reling lehnte, während die Kapelle ›Muß i denn zum Städtele hinaus‹ spielte und die zurückbleibenden Leute winkten und weinten oder Mützen in die Luft warfen und jubelten, sah Alice dezent nach links und rechts. Auch hier ähnliche Mienen: übermütig oder tieftraurig. Mit dem Schiff fortfahren, das konnte Abenteuer und Aufbruch ins Neue bedeuten, aber auch Abschied für lange, vielleicht für immer. Denn ihr Schiff fuhr über England weiter nach New York.
Alice fand das Leben an Bord elegant und spannend. Ihre Kabine wurde ihr von einem aufmerksamen Steward gezeigt. Bei Tisch saß sie mit zwei jüngeren und einem älteren Ehepaar zusammen, die freundlich reserviert
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