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Im Zeichen des großen Bären

Im Zeichen des großen Bären

Titel: Im Zeichen des großen Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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waren und blieben.
    Abends lustwandelte sie, wie andere auch, auf dem Promenadendeck. Sie bemerkte wohl die anerkennenden Blicke der Männer. In ihrem Kasack aus hellbraunem Seidensamt zum Rock aus Wollvelours, der eine Nuance heller war, dazu ein weißes Seidentuch lose über dem schwungvollen Bubikopf, sah sie wirklich zum Anbeißen aus.
    In mehreren Räumen spielten Kapellen. Wie gern wäre Alice dabei gewesen, doch sie traute sich nicht. Eine junge Dame allein mußte sehr zurückhaltend sein. Das war ihr bereits bei Madame Tissot beigebracht worden.
    Es war inzwischen dunkel geworden. Das Schiff zog seine Bahn wie eine hell erleuchtete, glitzernde Märcheninsel. Alice trat noch einmal hinaus und atmete tief ein.
    Ein frischer Wind wehte und preßte ihr den Rock gegen die Schenkel. Sie zog ihren weißen Seidenschal eng um den Kopf und sah zum Himmel auf, über den eilige Wolken segelten, grau und dick. Wie Bühnenvorhänge gaben sie Sterne, Mondsichel und ein Stück Milchstraße frei.
    Es war kalt geworden. Alice erschauerte und wandte sich zum Gehen. Da sah sie direkt in seine Augen. Er stand etwa zwei Meter entfernt von ihr. Blond, groß, mit breiten Schultern. Eine Lampe warf ihren Schein direkt auf sein Gesicht. Er blickte sie an und lächelte. Dabei kniff er die Augen zusammen, so daß sich ringsherum Fältchen zeigten. Obwohl er sehr jung zu sein schien, wirkte er männlich und überlegen. Das mochte an seiner Figur liegen. Große Männer mit breiten Schultern hatten es immer leichter als andere, tonangebend und bestimmend zu sein. François war mittelgroß gewesen.
    Sicher ein Engländer auf der Rückreise. Oder ein Amerikaner? Es waren viele englischsprechende Leute an Bord, Amerikaner nicht zu knapp. Es war Mode, sich Europa anzusehen mit den guten Dollars in der Tasche. Dieser Mann trug zu karierten Hosen und weißen Gamaschen ein Jacket in Crème und eine gepunktete Fliege. Es war jedenfalls nicht die Art von Kleidung, die Deutsche oder Briten bevorzugten. Dies alles geisterte durch Alices Kopf, aber nur halb bewußt, indem sich in ihrem Körper plötzlich Hitze ausbreitete.
    »Schade, daß Sie sich bewegt haben. So wie Sie da standen, hätte ich Sie gern gemalt. Es sah wunderschön aus«, sagte er. Jawohl, er sprach ein wunderliches Englisch, sehr breit, aber mit ganz leichtem französischen Einschlag.
    Alice erinnerte sich krampfhaft an ihre gute Erziehung. Meine Güte, ich werde mich doch jetzt nicht blöde zeigen wie das dämlichste Provinzgänschen, dachte sie. »Sind Sie denn Maler?«
    So, das war doch einigermaßen schlagfertig gewesen. Auf Phrasen antwortete man am besten mit einer entlarvenden Gegenfrage. Zu Alices Überraschung antwortete er jedoch: »Noch nicht. Aber ich werde einer. Bin auf dem besten Wege dahin.«
    »In England?«
    »Nein. Dort habe ich eine andere Mission zu erfüllen. Wollen wir tanzen?«
    »Ich … äh …« Ach, Madame Tissot, wie verhielt sich eine junge Dame in solcher Situation?
    »Sie frieren ja! Gehen wir schnell hinein. Aber vorher, verzeihen Sie mir bitte, ich kann nicht anders – sehen Sie den Stern dort?« Er zeigte zum Himmel.
    Alice guckte gehorsam in die Richtung. »Welchen?«
    »Den dort! Der so heftig funkelt.«
    Sie hatte den Kopf ein wenig in den Nacken gelehnt und den Mund leicht geöffnet. Flüchtig sah sie den Stern, dann hatte der fremde Mann sie schon im Arm, und sie fühlte seine Lippen auf den ihren. Was machte er denn mit der Zunge?!
    Alice war einer Ohnmacht nahe. Am liebsten hätte sie sich hinsinken lassen. Er zog sie noch enger an sich. Sie gab nach, spürte seinen Schenkel zwischen ihren Beinen, und das Meer und die Dunkelheit schlugen über ihr zusammen.
    Er ließ sie los und sah ihr in die Augen. »Wie heißen Sie?«
    »Alice.«
    »Ich heiße Jim Rockwell.«
    Als Alice ihren Namen aussprach, ging es wie ein elektrischer Schlag durch ihr Bewußtsein. Alice! Sie glaubte förmlich Großmutters besorgte Stimme zu hören oder Madame Tissots mahnenden Tonfall. Alice! Tief in ihr saß die Angst, die Großmutter ihr mit forschenden Blicken und betont gemessener Erziehung übermittelt hatte: daß da etwas brodelte, das unterdrückt werden mußte. Daß es Strafe, Unglück und Tod brachte, wenn man es auslebte. Strafe, Unglück und Tod, wie für ihre Mutter.
    Mit einem Ruck riß sie sich los. Wie gehetzt rannte sie zur Tür, die ins Innere des Schiffes führte, öffnete sie mit aller Kraft, eilte über Gänge und Treppen, als sei der Teufel hinter

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