Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
zur Schule und ist immer so ernst. Aber irgend etwas ist passiert, vielleicht war es dumm von mir, Liv vor Benjamins Augen zu stillen.
Verzeih mir. Es ist einfach passiert. Er war unerfahren und unsicher, und wir tranken Wein, obwohl ich wußte, daß Dir auffallen würde, daß die Flasche leer war. Es war doch die einzige Flasche, die wir uns seit einem halben Jahr hatten leisten können. Warum hast Du nie danach gefragt?
Der Wein nach dem Bier war zuviel, und als ich um fünf Uhr morgens auf dem Sofa aufwachte, war Benjamin nicht mehr da. Du warst noch nicht nach Hause gekommen, und ich hatte schreckliche Kopfschmerzen und schämte mich furchtbar. Ich suchte Kopfschmerztabletten, konnte aber keine finden. Und dann wollte ich nach Liv sehen. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Haut war ganz kalt. Ich hob sie hoch, und ich brauchte sicher eine Minute, um zu begreifen, daß sie tot war.
An viel mehr erinnere ich mich nicht. Nur daran, daß ich die Weingläser spülte und in den Schrank stellte. Und daß Du gleich darauf nach Hause kamst, fröhlich und sturzbetrunken.
Mit Benjamin habe ich seither kein Wort gewechselt, aber wenn wir uns auf der Straße begegnen, sehe ich ihm an, daß er entsetzlich leidet. Ende des Monats zieht er in die Stadt, er hat einen Studienplatz in Medizin bekommen, hat Frau Grinde mir erzählt. Sie scheint sich Sorgen zu machen. Er hat abgenommen und ist noch schweigsamer als früher, hat sie gesagt. Ich hoffe, ich brauche ihn niemals wiederzusehen. Er wird mich immer, immer an den Verrat, den großen Verrat an Dir und den unverzeihlichen Verrat an unserer Tochter erinnern.
Ich denke die ganze Zeit an sie, und nachts träume ich von ihrer Haut, von ihren honigfarbenen Haaren, von ihren kleinen Fingernägeln, die nur so groß wie Punkte waren. Ab und zu, für einen winzigen Moment, vergesse ich, daß sie tot ist.
Aber das ist sie.
Ich war verantwortungslos und habe sie verraten. Ich habe mich entschlossen weiterzuleben, aber ich muß Liv aus meinem Leben verbannen, aus unserem Leben. In meinem zukünftigen Leben werde ich niemals, niemals vergessen, daß Verantwortungsgefühl das Allerwichtigste ist. Ich werde Verantwortung übernehmen und nie wieder loslassen.
Jetzt kann ich nicht mehr schreiben. Wenn Du diesen Brief jemals liest, Roy, dann bin ich nicht mehr da.
Und dann weißt Du, daß ich Deine Trauer nicht wert bin.
Deine Birgitte
Der Staub tanzte im Lichtkegel. Die Zugluft der Dachluke ließ die winzigen Staubkörner in unvorhersagbaren Bewegungen umherwirbeln, sie funkelten wie mikroskopische Scheinwerfer, hier und dort, ohne Zweck und Ziel. Roy faltete mit unbeholfenen Bewegungen den Brief zusammen. Als er seine Hände betrachtete, schienen sie jemand anderem zu gehören, einem Menschen, dem er noch nie begegnet war. Er legte den Brief in die Hutschachtel, die neben seinen Füßen stand. Langsam streckte er die Hände ins Licht und drehte die Handflächen nach oben.
Jemand schien sie mit Goldstaub zu berieseln. Er bildete sich ein, die Staubkörner auf der Haut spüren zu können; er hatte ein Bedürfnis nach Schmerz, und plötzlich versetzte er sich selbst eine schallende Ohrfeige.
Die letzten Stunden mit Birgitte standen ihm glasklar vor Augen. Die letzte Nacht. Sie hatte schlecht geschlafen. Das sah er jedesmal, wenn er wach wurde: Sie starrte aus weitoffenen Augen in die Dunkelheit und zwinkerte nicht einmal. Die Mauer zwischen ihnen war zu hoch gewesen; er wußte nicht, was ihr so zu schaffen machte, aber er kannte sie gut genug, um sich nicht zu ihr hinzudrehen, um sie nicht zu bedrängen. Er hatte damals nichts gesagt, und später auch nicht. Die Fragen der Polizei – nach Birgitte, nach der Pillendose, nach Liv – waren so schrecklich gewesen. Und plötzlich wußte er, warum. In ihm gab es etwas, das so lange versteckt und vergessen gewesen war, daß es nicht herauswollte. Er wollte es nicht herauslassen. Es sollte dort bleiben, wo es war, weit entfernt von jeglichem Bewußtsein. Er hatte doch alles vergessen.
Doch das hatte er ja eigentlich gar nicht.
Die Wahrheit überkam ihn fast wie eine Offenbarung. Die Sonne stand jetzt genau über dem Dach, und ihr grelles Licht erfüllte den gesamten Bodenraum. Roy dachte wieder an den Seehund. Das Bild stand ihm wunderbar klar vor Augen, wie eine guterhaltene Fotografie oder ein Filmausschnitt, der nie gealtert war; der glatte, das Wasser gewohnte Seehund, der sich 1970 in Bergen in einem türkisblauen Becken
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