Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
unerträglich, und ich gebe mir wirklich Mühe, aber es ist so unmöglich. Vielleicht wäre es das beste, Dir einfach die Wahrheit zu erzählen. Dann könntest Du mich hassen und mich verlassen, und für mich wäre das die gerechte Strafe. Aber ich schaffe das nicht. Ich wage es nicht. Ich bin zu feige. Zu feige zum Sterben und zu feige, um auf ehrliche Weise weiterzuleben.
Und deshalb schreibe ich Dir jetzt.
Während dieser Wochen habe ich mich immer wieder gefragt: Wie konnte das passieren?
Ich habe sie so sehr geliebt! Auch wenn sie ungelegen kam. Ich weiß noch so gut, wie Du reagiert hast, als ich Dir von meiner Schwangerschaft erzählte. Zwei Wochen lang hatte ich mich davor gefürchtet. Du hattest doch gerade erst Deinen Studienplatz an der PH bekommen, und nichts war in diesem Moment schlimmer als ein Kind. Aber du hast gelacht! Du hast mich durch die Luft geschwenkt und gesagt, daß alles gutgehen werde, und am nächsten Tag hattest du all Deine Pläne umgestürzt und wolltest aller Welt erzählen, daß Du Papa wirst. Das werde ich alles nie vergessen.
Ich hatte solche Angst, daß ihr etwas passieren könnte. Mama hat mich damit aufgezogen und gesagt, daß auch früher schon Kinder auf die Welt gekommen seien und überlebt hätten. Jetzt, heute nacht, sehe ich, daß meine Liebe zu Liv nichts wert war. Ich hielt mich für eine gute Mutter, die auf ihr Kind aufpaßte, aber ich war verantwortungslos. Verantwortungsgefühl ist wichtiger als alle Liebe auf der Welt, und wenn ich Verantwortungsgefühl gehabt hätte, dann wäre Liv noch bei uns.
Am Johannistag wollten wir uns freinehmen. Ich hatte mich so gefreut. Endlich wollten wir nur zu zweit sein, wie in der Zeit vor Liv, wie letztes Jahr, in diesem wunderbaren Sommer. Ich weiß ja, wir hätten ein so kleines Kind niemals einem Babysitter überlassen dürfen, aber wir wollten doch nur zum Tanzen am Hafen, und Benjamin konnte so gut mit Liv umgehen. Mama und Papa waren in Oslo, und ich glaube, das Schlimme wäre nicht passiert, wenn sie zu Hause gewesen wären. Mama hätte mich nicht gehen lassen. Oder selber auf Liv aufgepaßt.
Du warst so lustig, als ich gegen elf gegangen bin, um Liv zu stillen. Du hast gelacht, als ich winkte und Dir durch Zeichensprache klarmachen wollte, daß ich bald zurückkommen würde. Du warst beschwipst, aber Du sahst so gut aus und warst so witzig, und ich war glücklich, als ich nach Hause stolperte, auch ich hatte zuviel getrunken. Ich konnte an diesem Abend keinen Alkohol vertragen. Du weißt, wie selten ich Alkohol anrühre, und ich war ein bißchen wirr im Kopf. Das ist meine einzige Erklärung für das, was dann passiert ist: Ich war ein bißchen wirr im Kopf.
Ich habe Dir und allen anderen gesagt, ich sei müde gewesen und zu Hause dann bald eingeschlafen. Daß ich deshalb nicht zurückgekommen sei.
Das war eine Lüge.
Roy fuhr sich über die Augen und spürte die Feuchtigkeit an seinen Fingerspitzen. Die nächsten Zeilen im Brief waren durchgestrichen, mit schwarzer Tinte, an zwei Stellen waren dabei Löcher im Papier entstanden. Er blätterte weiter.
Alles ist eine große schwarze Lüge. Ich merke, wie schwer es ist, die Wahrheit auch nur zu schreiben. Sie will einfach nicht aufs Papier.
Benjamin stand in der Tür, als ich kam. Er war ziemlich aufgeregt und hatte mich gerade holen wollen. Liv sei unruhig und weine, sagte er, und nun hatte sie fast vierzig Grad Fieber. Ich begriff nicht, daß das gefährlich sein konnte, Roy. Sie hatte doch schon häufiger Fieber gehabt, das schnell gekommen und auch schnell wieder verschwunden war. In diesem Moment hatte ich das Kind einfach ein wenig satt. Wir wollten uns doch einen schönen Abend machen. Also sagte ich, es sei sicher nicht weiter schlimm, sie müsse nur ein wenig an die Brust gelegt werden, und dann werde sie sicher wieder einschlafen.
Und sie beruhigte sich auch, als ich sie an die Brust legte, ich bin sicher, daß ich mir das nicht einbilde. Sie kann zwar nicht viel getrunken haben, aber als ich sie dann wieder ins Bett legte, war sie nicht sonderlich unruhig. Sie hatte noch immer Fieber, das konnte ich an ihren Augen sehen und an ihrer Haut fühlen, aber Kinder haben doch bisweilen Fieber, nicht wahr?
Plötzlich fand ich Benjamin so niedlich. Es ist so schrecklich, ich hatte Dich doch gerade erst am Hafen verlassen und dabei gedacht, daß Du der tollste Mann von allen seist. Großes Ehrenwort, ich hatte Benjamin noch nie so betrachtet, er geht
doch noch
Weitere Kostenlose Bücher