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Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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von Liv, nackt, die Knie an die Brust gezogen, die Fäuste geballt, sie weinte. Unter dem Bild lag ein hellrotes Buch. Er schlug es auf und blätterte vorsichtig darin. Er hatte Angst, die Seiten könnten ihm zwischen den Händen zu Staub zerfallen. Birgitte hatte so vieles notiert.
    Geburtsgewicht, Größe; das kleine Armband aus der Klinik mit Birgittes Namen und Livs Geburtstag, das sie auf die erste Seite geklebt hatte, fiel heraus, als er es berührte, und er steckte es weiter hinten zwischen die Seiten. Die allerletzte Eintragung stammte vom 22. Juni 1965: »Liv bekam heute die Dreifachimpfung. Sie hat sehr geweint, es war hart für groß und klein, aber es war ja bald vorbei.« Mehr stand nicht in dem Buch.
    Roy bekam keine Luft mehr. Er legte die Schachtel auf den Boden, und die Babysocken fielen von seinem Knie auf den schmutzigen Boden, als er aufsprang. Die Dachluke klemmte und ließ sich nicht bewegen, doch schließlich konnte er sie öffnen. Eine Zeitlang hielt er sein Gesicht in den frischen Wind und das blendende Licht.
    Birgitte hatte keine Bilder aufstellen wollen. Sie hatte ihn wütend aufgefordert, es sofort wegzunehmen, als er ein Jahr nach Livs Tod ein Bild von ihr auf den Nachttisch gestellt hatte, in einem Silberrahmen, den er eigens dafür gekauft hatte. Sie wollte auch nicht über Liv sprechen. Sie wollte keine Andenken an sie behalten. Nach Pers Geburt hatte Roy einige Male versucht, das Thema zur Sprache zu bringen. Per mußte es doch erfahren. Die Gefahr, daß er von dritter Seite von seiner Schwester erfahren würde, was viel schlimmer gewesen wäre, war zu groß. Wieder war Birgitte wütend geworden. Am Ende war Liv zum Unthema geworden, und Roy hatte es noch unmöglicher gefunden, Per davon zu erzählen, als der Junge größer wurde. Auf diese Weise war Liv einfach verschwunden, langsam und allmählich. Ab und zu hatte er an sie gedacht, bisweilen überwältigten ihn die Erinnerungen, vor allem zu Mittsommer, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und alles frisch nach neuem, sommerlichem Leben roch. Birgitte wollte nichts von ihr hören, nicht über sie sprechen, nichts von ihr wissen.
    Es gab nur ein Kind in Birgittes Leben: Per. Diesen Eindruck hatte sie zumindest vermittelt. Das hatten alle gedacht. Per hatte sie voller Ernst und Verantwortungsgefühl angenommen. Die verspielte, jugendliche Freude, die bei Livs Geburt zwischen ihnen geherrscht hatte, war verschwunden. Sie war einer ewig ängstlichen Fürsorge gewichen, die erst nachgelassen hatte, als Birgitte endlich einsehen mußte, daß Per zu einem robusten, gesunden Teenager herangewachsen war.
    Roy setzte sich vorsichtig wieder auf die Seekiste und nahm die Hutschachtel auf den Schoß. Darin lag der Silberlöffel, den sie zu Livs Taufe gekauft hatten. Und der Schnuller, und er lächelte, als er sah, wie altmodisch der wirkte, schlicht und babyrosa, das Gummi war inzwischen hart geworden. Ganz unten in der schlichten Andenkensammlung lag ein Brief. Es schien ein langer Brief zu sein, der in einem Umschlag steckte. Auf dem Umschlag stand Roys Name, in Birgittes Schrift, geschwungen und elegant.
    Als er den Umschlag öffnete, zitterten seine Hände so sehr, daß ihm der Brief auf den Boden fiel. Er richtete sich auf, schaute wieder ins Licht und atmete tief durch. Dann faltete er den Brief auseinander und fuhr mehrere Male mit der Hand darüber.
    Der Brief war zweiunddreißig Jahre alt.
 
    Nesodden, 2. August 1965
    Liebster Roy,
    diesen Brief wollte ich schon lange schreiben, aber ich glaube, ich schaffe es erst jetzt. Wenn nicht, fürchte ich, daß ich es niemals über mich bringen werde. Dieser Brief wird nur in Deine Hände gelangen, wenn ich Dich verlassen muß. Ich glaube aber nicht, daß das passiert. Du hast genug verloren, und ich liebe Dich, aber Gott weiß, daß ich während der letzten Wochen kaum gewußt habe, wie ich weiterleben sollte. Es erscheint mir so unmöglich. Ich schleppe mich von einem Tag zum anderen und will eigentlich nur schlafen. Was ich getan habe, kann nie verziehen werden. Nicht von Dir, und schon gar nicht von mir selbst.
    Ich sehe, daß Dein Schmerz so groß ist wie meiner, aber Du trägst zumindest keine Schuld. Ich dagegen habe gefehlt, und diese Schande ist nicht zu ertragen. Wenn Du versuchst, mit mir über Liv und über alles, was passiert ist, zu sprechen, spüre ich, wie mich Schuld und Scham ergreifen. Der Schmerz in Deinen Augen, wenn Du glaubst, ich sei wütend, ist ebenfalls

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